München/London – Ginge es nicht um einen der wichtigsten Jobs Europas, würde sich der Gedanke an eine Castingshow aufdrängen. Zehn Kandidaten – acht Männer und zwei Frauen – gehen in Großbritannien ins Rennen um die Nachfolge von Theresa May als Parteivorsitzende der konservativen Tories. Alle zehn erfüllten bis zum Nominierungsschluss am Montagabend die entscheidende Voraussetzung. Sie konnten die Unterstützung von acht Abgeordneten vorweisen. Ab morgen stimmen die Tories jeden Dienstag und Donnerstag ab, der Bewerber mit den wenigsten Stimmen scheidet aus. Sind zwei übrig, entscheiden die Parteimitglieder, wer an die Spitze rückt und in die Downing Street 10 einzieht. Der Sieger wird das zweifelhafte Privileg haben, den Brexit abzuwickeln. Ein Zurück gibt es nicht mehr. Nur ein Aspirant sprach sich für ein zweites Referendum aus, fand aber keine acht Unterstützer. Ein Trio hat die besten Aussichten:
Boris Johnson: Der Schrillste der Zehn – und der Favorit. Der frühere Bürgermeister von London und Ex-Außenminister ist einer der glühendsten Brexit-Verfechter, er kämpft mit harten Bandagen und hält sich nicht immer an die Wahrheit. Kein Wunder, dass Donald Trump ihn schätzt und nachdrücklich empfiehlt. Tatsächlich scheinen beide in wichtigen Fragen Brüder im Geiste zu sein. Die Drohung, die rund 44 Milliarden Euro Ausstiegszahlung an die EU zurück zu halten, um einen besseren Brexit-Deal auszuhandeln, klingt, als sei sie im Weißen Haus formuliert. Zuletzt sprach sich Johnson (54) für Steuererleichterungen für Besserverdienende aus. Der Wahlkampf hat begonnen.
Jeremy Hunt: Johnsons Nachfolger als Außenminister und mutmaßlich sein schärfster Konkurrent. Hunt (52) war ursprünglich für den Verbleib Großbritanniens in der EU und zählt zu den moderateren Kräften in der immer hitziger geführten Debatte. Dennoch hat auch er vergangene Woche ein Lob von Donald Trump, dem Freund maximaler Konfrontation, erhalten. Ein Premierminister Hunt werde „sehr gute Arbeit“ leisten. Umgekehrt machte auch Hunt dem Präsidenten seine Aufwartung. Während dessen England-Besuch traf er ihn sechs Mal in drei Tagen, weit mehr als jeder andere Kandidat. Zuletzt sprach sich die einflussreiche Arbeitsministerin Amber Rudd für ihn aus. Auf ihre Empfehlung hatte auch Johnson gehofft.
Michael Gove: Der Wahlkampf lief noch nicht richtig, da war Gove (51) schon in der Defensive. Am Wochenende musste der Umweltminister sich wegen seines Drogenkonsums vor 20 Jahren rechtfertigen. Er sei „ein junger Journalist“ gewesen und habe einen Fehler begangen. Die Enthüllung war ein erster Vorgeschmack darauf, wie schmutzig der Wahlkampf werden könnte. Mehrere weitere Kandidaten beichteten Drogenmissbrauch. Überraschend kann das alles für Gove nicht kommen, auch er hat spitze Ellenbogen. Vor drei Jahren unterstützte er zunächst Johnson im Kampf um den Parteivorsitz, ehe er ihm in den Rücken fiel und selber Ambitionen anmeldete. Nun treffen sich die Rivalen wieder. MARC BEYER