Hongkong – Die Bilder glichen denen vom vorangegangenen Wochenende. Wieder zogen am Sonntag Hunderttausende Demonstranten, die meisten schwarz gekleidet, durch das Stadtzentrum von Hongkong. Viele trugen diesmal weiße Blumen in der Hand, im Gedenken an einen Demonstranten, der am Samstag beim Sturz von einem Baugerüst gestorben war. Auf Spruchbändern kritisierten sie die Polizeigewalt der vorangegangenen Tage. „Ihr sollt uns schützen, nicht auf uns schießen“, war auf einem zu lesen.
Die Ankündigung von Regierungschefin Carrie Lam, das umstrittene Auslieferungsgesetz vorerst nicht zu verabschieden, hat nicht für ein Ende der Proteste gesorgt. Die Entscheidung habe den Ärger der Bevölkerung „in keiner Weise“ abgemildert, sagte Jimmy Sham von der Civil Human Rights Front (CHRF), der größten Protestgruppe. „Die Aussetzung des Auslieferungsgesetzes bedeutet nur, dass Carrie Lam es jederzeit wiederbeleben kann“, sagte auch der Aktivist Lee Cheuk Yan. Die Demonstranten forderten Lam am Sonntag zum Rücktritt auf und forderten eine Entschuldigung für die Polizeigewalt.
Hunderttausende, nach eigenen Schätzungen sogar zwei Million Menschen, hatten sich vor gut einer Woche in den Straßen der ehemaligen britischen Kronkolonie zur größten Demonstration seit 30 Jahren versammelt. Sie protestierten gegen ein geplantes Gesetz, das Auslieferungen an die Volksrepublik China ermöglichen würde. Am Mittwoch verhinderten Demonstranten eine erste Beratung des Entwurfs im Stadtparlament. Es kam zu Zusammenstößen. 81 Menschen, darunter 22 Polizisten, wurden verletzt.
Am Samstag erklärte Lam, das Parlament werde nicht wie geplant am kommenden Donnerstag über den Gesetzentwurf abstimmen. In der Öffentlichkeit gebe es immer noch Bedenken und Zweifel an der Gesetzesvorlage, außerdem müsse in der Stadt wieder Ruhe herrschen.
Lam hatte das Gesetz zuvor vehement verteidigt und betonte jetzt erneut, es sei notwendig, um Schlupflöcher zu schließen und zu verhindern, dass Hongkong weiterhin ein Zufluchtsort für Kriminelle sei. Sie machte klar, dass es durch die aktuelle Entscheidung nicht vom Tisch sei. Die Regierung habe die Reaktion der Bevölkerung jedoch unterschätzt. Es seien weitere Beratungen notwendig. „Wir haben nicht die Absicht, eine Frist für diese Arbeit festzulegen, sagte Lam. Nach den neuerlichen Protesten am Sonntag räumte sie „Defizite in der Regierungsarbeit“ ein, die zu „vielen Konflikten und Auseinandersetzungen“ geführt hätten.
Die chinesische Regierung begrüßte die Aussetzung des Gesetzes. „Wir unterstützen, respektieren und verstehen diese Entscheidung“, sagte ein Sprecher des Außenministeriums in Peking. Die Aussetzung sei ein Versuch, „den Ansichten der Gemeinschaft mehr Gehör zu schenken und so schnell wie möglich wieder Ruhe in der Gemeinschaft herzustellen“.
Zwischen der Volksrepublik China und dem sieben Millionen Einwohner zählenden Hongkong gibt es bislang kein Auslieferungsabkommen. Kritiker fürchten, durch das neue Gesetz könnten Dissidenten an Peking ausgeliefert und somit in Hongkong geltende Rechte ausgehebelt werden. Die ehemalige britische Kronkolonie wurde 1997 zur chinesischen Sonderverwaltungszone. Unter dem Schlagwort „Ein Land, zwei Systeme“ wurden ihr weitgehende Autonomie und Bürgerrechte zugesichert, darunter das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit.
Die Demonstranten, unter ihnen Juristen, Wirtschaftsvertreter, Journalisten, Aktivisten und Religionsvertreter, beklagen, dass diese Freiheiten schon seit Jahren eingeschränkt würden. „Die prodemokratischen Gruppen werden hier nicht Halt machen“, sagte der politische Beobachter Willy Lam. „Sie wollen von der Dynamik gegen Carrie Lam profitieren und den Druck aufrecht erhalten.“ afp/dpa