Istanbul – Als der weiße Bus um die Ecke biegt, hält die Menschen im Stadtteil Maltepe nichts mehr. Sie scharen sich um das Fahrzeug, wollen ihren Kandidaten aus der Nähe sehen. Ekrem Imamoglu steigt auf das Dach des Busses. Seine Anhänger schwenken türkische Fahnen. Auf einigen steht Imamoglus Slogan: „Alles wird sehr gut.“ Ob das so ist, wird sich am Sonntag zeigen. Dann tritt der 49-Jährige im Rennen um das Bürgermeisteramt in Istanbul erneut gegen Ex-Ministerpräsident Binali Yildirim (63) an.
Imamoglu hatte die Wahl am 31. März knapp gewonnen. Dann hatte die Regierungspartei AKP Einspruch wegen angeblicher Regelwidrigkeiten eingelegt. Anfang Mai annullierte die Hohe Wahlkommission das Ergebnis, setzte Imamoglu ab und ordnete eine Wahlwiederholung an – auf Druck von Präsident und AKP-Chef Recep Tayyip Erdogan, wie die Opposition kritisiert.
Die Wahl wird auch international aufmerksam beobachtet. Erdogan-Verdrossene und die Opposition feiern Imamoglu als Hoffnungsträger für Istanbul und das Land. Mehrere Oppositionsparteien stellten keinen eigenen Kandidaten auf, um ihn zu unterstützen, auch die kurdische HDP. Umso erstaunter reagierten deren Politiker, als am Freitag ein Brief auftauchte, in dem der inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan die Kurden zur Neutralität aufrief. Ob der Brief wirklich von ihm stammt, ist unklar.
Aus der AKP heißt es, selbst parteiinterne Umfragen zeigten Imamoglu vorne. Entsprechend nervös erscheint die Regierungspartei. Ihr Kandidat Yildirim stellte sich der Opposition vor einigen Tagen sogar in einem TV-Duell.
Beide Seiten geben alles. Imamoglu, der für die größte Oppositionspartei CHP antritt, trifft Wirtschaftsvertreter, hält Reden und zeigt sich auch in konservativen Stadtteilen. „Ich werde sehr viel arbeiten, ich werde nicht müde werden, denn Gott sei Dank haben wir Energie, unsere Jugend und unser Herz“, ruft er vom Bus in Maltepe. Gerade Jugendliche folgen ihm.
Imamoglu habe in seiner 18-tägigen Amtszeit mehr für Studenten getan, als die AKP in fast 20 Jahren, sagt eine Pädagogikstudentin, die ihren Namen nicht nennen will. Ihr Bruder, 21, Architekturstudent, sagt, die AKP regiere an den Jungen vorbei und brüste sich mit vergangenen Erfolgen. „Es ist 2019 und wir reden darüber, dass es früher keine Elektrizität gab. Wir brauchen Visionen.“
Die CHP-Anhänger glauben fest an Imamoglus Sieg und daran, dass die Wahl fair abläuft. Nach Ansicht der Bürgerinitiative Oy ve Ötesi, die die Abstimmung beobachtet, ist Wahlbetrug nicht so einfach. „Der türkische Wahlprozess ist besser als sein Ruf, solange es keinen Druck auf die Institutionen gibt“, sagt Vereinschef Mustafa Köksalan.
Die AKP wiederum versucht, so viele Wähler wie möglich zu mobilisieren, und führt dabei einen völlig anderen Wahlkampf als noch vor dem 31. März. Einer ist überhaupt nicht präsent: Erdogan. Noch im März hatte er die Kommunalwahl hochstilisiert zu einem Kampf um den Fortbestand des Landes. Analysten vermuten, dass er sich aus der Schusslinie nehmen will, für den Fall, dass die AKP doch verlieren sollte.
Auch auf den Plakaten ist nun nur Yildirim zu sehen. Hinter Erdogan blieb er stets blass, nun versucht er, an Farbe zu gewinnen. Er lädt eine Journalistin des Senders „Habertürk“ in sein Haus ein und lässt sich mit Frau und Hund fotografieren. Im TV-Duell wirkt er manchmal unbeholfen, aber sympathisch. Dass sich die AKP überhaupt einem Fernsehduell mit der Opposition stellt, ist ein historischer Moment. Die Istanbuler fieberten ihm entgegen wie einem Spiel der Fußballnationalmannschaft. Die Gegner diskutieren – und beschimpfen sich. Yildirim bezeichnet Imamoglu als „Lügner“. Der beschuldigt die AKP, öffentliche Gelder zu verschwenden.
Erdogan scheint auf eine Niederlage vorbereitet zu sein. „Jeder, der Demokratie und das Recht respektiert, muss sich mit dem Ergebnis am Sonntag zufriedengeben und sich ihm fügen“, sagt er. Überhaupt: Es sei ja „nur“ eine Bürgermeisterwahl.