Istanbul – Am Morgen nach der Wahl grüßen sich viele Menschen in Istanbul mit einer Abwandlung von Ekrem Imamoglus Wahlslogan „alles wird gut“. „Alles ist gut geworden!“, rufen sie sich zu. Beim Friseur, beim Bäcker, beim Gassigehen. Mit 54 Prozent hatten sie sich bei der Neuwahl ihres Bürgermeisters am Sonntag für den Oppositionsmann von der CHP entschieden – ein seltenes Ergebnis für einen Bürgermeister. Präsident Recep Tayyip Erdogan selbst war in den 90er-Jahren einst mit nur 25 Prozent Bürgermeister von Istanbul geworden.
Erdogan ist übrigens nicht mehr aufgetaucht nach seiner staatsmännischen Geste vom Vorabend: Kurz nach Veröffentlichung der Ergebnisse hatte er Imamoglu gratuliert. Am Montag bleibt sein täglich vom Palast in Ankara veröffentlichtes Programm leer. „Götterdämmerung“ sagen manche schon. Schlimmer könne eine Blamage nicht ausfallen. In der größten Stadt der Türkei, Machtzentrum von Präsident Erdogan und seit Jahrzehnten regiert von islamisch-konservativen Bürgermeistern, ist ein unbekannter Oppositioneller Bürgermeister geworden – zwei Mal. Erdogan hatte sich vor der regulären Kommunalwahl am 31. März schwer in den Wahlkampf geworfen und damit das Schicksal der Wahl mit dem eigenen verbunden. Nach der Niederlage seines Kandidaten Binali Yildirim am 31. März hatte er Druck auf die Wahlbehörde ausgeübt und damit die Neuwahl erzwungen. Das Resultat war eine umso größere Bühne für Imamoglu.
Serienweise gratulieren nun auch deutsche Politiker dem Oppositionskandidaten, als sei er gegen Erdogan angetreten und soeben Präsident geworden. Viele sehen die Macht des Präsidenten nun bröckeln. Der Grünen-Politiker Cem Özdemir drückt es so aus: „Wir sind in der Nachspielzeit.“ Aber stimmt das?
„Das war schon die größte Niederlage in Erdogans politischer Karriere“, sagt Michael Serkan Daventry, der als „James in Turkey“ einen vielbeachteten Analyse-Blog schreibt. „Aber: Es ist noch nicht der Anfang vom Ende der Ära Erdogan.“ Zum einen habe Erdogan als Präsident noch vier Jahre im Amt, um die Dinge herumzureißen.
Der Chef der Böll-Stiftung in Istanbul, Kristian Brakel, sagt: „Was mit der AKP und Erdogan passiert, ist vor allem von der Entwicklung der Wirtschaft abhängig.“ Die schlechte wirtschaftliche Lage war der eigentliche Grund dafür, dass Erdogan bei der Kommunalwahl am 31. März in Istanbul, aber auch in anderen Großstädten Stimmen verloren hatte. Die Inflation liegt bei 20 Prozent, es gab innerhalb eines Jahres rund eine Million Arbeitslose mehr.
Und es könnte schlimmer kommen: Zurzeit intensiviert sich ein Konflikt mit den USA um den Kauf eines russischen Luftabwehrsystems. Lieferung: schon im Juli. Die USA drohen mit Sanktionen. Das letzte Mal, als es Sanktionen gab, war die Lira dramatisch abgestürzt.
Erdogan sitzt aber nicht nur innenpolitisch und außenpolitisch in der Klemme. Kritik gibt’s auch aus der eigenen Partei. Der in Deutschland aufgewachsene AKP-Politiker Mustafa Yeneroglu twitterte in der Wahlnacht, die AKP habe Istanbul verloren, weil sie die „moralische Überlegenheit“ eingebüßt habe. CHRISTINE RÖHRS