Zweifel an der Einzeltäter-These

von Redaktion

Hat Stephan E. wirklich allein gehandelt? Oder hielt er immer noch Kontakt zu alten Freunden aus der Neonazi-Szene? Für die Ermittler steht fest: Sie stehen in ihrer Aufklärungsarbeit erst am Anfang.

VON ANNE-BEATRICE CLASMANN UND MARTINA HERZOG

Berlin – Stephan E. hat gestanden. Zehn Tage nach seiner Festnahme hat der 45-Jährige den Mord am CDU-Politiker Walter Lübcke zugegeben. „Das heißt, die Ermittler, die Fahnder haben den richtigen Mann. Und darüber müssen wir alle froh sein“, sagt Regierungssprecher Steffen Seibert. Um aber gleich hinterherzuschieben: „Und jetzt werden sicherlich damit die Ermittlungen nicht zu Ende sein.“ Keinen Monat, nachdem der Kasseler Regierungspräsident Lübcke auf seiner Terrasse erschossen wurde, scheint die Frage nach dem Täter mit großer Sicherheit beantwortet. Doch nicht nur Seibert bleibt vorsichtig.

„Er hat angegeben, die Tat, den Mord an Herrn Lübcke, alleine vorbereitet und alleine durchgeführt zu haben“, sagt Generalbundesanwalt Peter Frank über Stephan E. „Trotz dieser Aussage des Beschuldigten, als Einzeltäter gehandelt zu haben, wird Gegenstand unserer Ermittlungen sein, ob es Unterstützer, Helfer, Mitwisser, Mittäter gegeben haben könnte.“ Daher seien die Ermittlungen weiterhin darauf gerichtet, ob „dieser Tat, diesem Mord, eine terroristische Vereinigung zugrunde liegt oder ob der Beschuldigte Mitglied einer rechtsterroristischen Vereinigung ist“.

Im rechtsextremistischen Bereich schätzen die Sicherheitsbehörden momentan 39 Personen als „Gefährder“ ein. Das sind Menschen, denen sie einen Terroranschlag oder eine ähnlich gravierende politisch motivierte Straftat zutrauen. Bei den Islamisten waren es zuletzt rund 750 „Gefährder“. Die Grünen-Innenpolitikerin Irene Mihalic sieht eine „eklatante Analyseschwäche“ im Bereich Rechtsextremismus – auch wenn es nach dem Führungswechsel von Hans-Georg Maaßen zum neuen Verfassungsschutz-Präsidenten Thomas Haldenwang einen „Mentalitätswechsel“ gegeben habe.

Bundesinnenminister Horst Seehofer räumte Verbesserungsbedarf bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus ein. Schon unter seinen Vorgängern sei vieles besser geworden. „Aber ich möchte jetzt nicht behaupten, dass alles Menschenmögliche getan wurde“, sagte er gestern Abend in der ARD. Seehofer wies darauf hin, dass es rund 25 000 Rechtsextremisten gebe. Die Hälfte sei definitiv gewaltbereit. „Und 12 000 gewaltbereite Menschen so zu überwachen, dass alles vermieden wird, ist kaum möglich“, sagte er. Man könne keine absolute Sicherheit versprechen. „Aber das Menschenmögliche müssen wir machen.“ Dazu zähle eine bessere Ausstattung der Polizei, aber auch die Prüfung, welche Organisationen verboten werden könnten.

Defizite gibt es viele. Auch wer wie Stephan E. schon ausländerfeindliche Straftaten verübt hat, kann, wenn er sich über Jahre unauffällig verhält, vom Radar der Behörden verschwinden. Deshalb gab es zunächst keinen Treffer, als der Verfassungsschutz nach der Inhaftierung des Tatverdächtigen in seinem Informationssystem nachschaute, ob E. als Rechtsextremist bekannt ist. Denn es gibt Löschungsfristen, die verhindern sollen, dass einem geläuterten Bürger die radikale Vergangenheit auf ewig als Klotz am Bein hängt.

Dass der Inlandsgeheimdienst später dann doch noch Akteneinträge zu dem heute 45-Jährigen aus Hessen fand, hat mit der Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) zu tun. 2011 flogen die Rechtsterroristen auf, die zehn Menschen töteten und viele verletzten. Nachdem herausgekommen war, dass im Bundesamt für Verfassungsschutz relevante Akten geschreddert worden waren, wurde 2012 ein Moratorium beschlossen. Die Informationen aus dem Bereich Rechtsextremismus werden seither nicht mehr vernichtet, sondern in einer „Quarantäne-Datei“ deponiert.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble verlangt eine konsequente Reaktion. „Das Machtmonopol des Staates ist dazu da, dass es auch angewandt wird. Konsequent und durchschlagend.“ Es sei am Rechtsstaat, die weiteren Hintergründe zügig und umfassend aufzuklären – „und an der Politik und den Sicherheitsbehörden, dafür zu sorgen, dass sich beweist, wovon beim Grundgesetz-Jubiläum so viel die Rede war: die wehrhafte Demokratie“.

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