Merkel musste sich enthalten

von Redaktion

Die EU-Personalien entscheiden über die Ausrichtung Europas in den kommenden Jahren. Nach einem schier endlosen Verhandlungsmarathon nimmt ein neues Personalpaket für die EU-Führung Gestalt an. Enthalten ist eine dicke Überraschung.

Brüssel – Paukenschlag in Brüssel: Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen soll neue EU-Kommissionspräsidentin werden. Die EU-Staats- und Regierungschefs nominierten die CDU-Politikerin gestern Abend bei ihrem Sondergipfel in Brüssel offiziell und durchbrachen damit eine tagelange Blockade bei der Besetzung von EU-Spitzenposten. Die Einigung verkündete EU-Ratschef Donald Tusk.

Absurdes Detail aus deutscher Sicht und Sinnbild für den Zustand der Großen Koalition: Wegen fehlender Unterstützung der SPD musste sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei der EU-Abstimmung über von der Leyen enthalten. Die Bundesverteidigungsministerin sei von den 28 EU-Staaten „einstimmig mit einer Enthaltung“ nominiert worden, sagte Merkel beim EU-Gipfel in Brüssel. Sie selbst, die zwischenzeitlich den Sozialdemokraten Timmermans als Kommissionspräsident unterstützt hatte, habe sich „entsprechend den Regeln des deutschen Abstimmungsverhaltens“ so verhalten müssen. Völlig unklar ist allerdings, ob von der Leyen die nötige Mehrheit im Europaparlament bekommen wird. Die Fraktionsspitze der Sozialdemokraten zeigte sich bereits tief enttäuscht über den Vorschlag.

Von der Leyen könnte, wenn sie denn vom Parlament bestätigt wird, die erste Frau an der Spitze der EU-Kommission werden. Erstmals seit mehr als 60 Jahren könnte Deutschland den mächtigen Brüsseler Posten besetzen. Ihre Nominierung ist eine große Überraschung nach wochenlangem Postenstreit seit der Europawahl.

Bundeskanzlerin Angela Merkel wollte ursprünglich den Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, als Kommissionschef. Als der CSU-Politiker im Kreis der EU-Länder aber auf heftigen Widerstand stieß, suchte Merkel nach Alternativen. Bei Dauerverhandlungen hatten sich die 28 EU-Staaten gegenseitig blockiert. Deshalb legte EU-Ratschef Donald Tusk ein Kompromisspaket vor. Neben von der Leyen als Kommissionschefin waren darin vorgesehen der liberale belgische Ministerpräsident Charles Michel als Ratspräsident und der spanische Außenminister Josep Borrell als Außenbeauftragter.

Ein Sozialist soll zudem für zweieinhalb Jahre Präsident des Europaparlaments werden. In der zweiten Hälfte der Legislaturperiode könne EVP-Fraktionschef Weber diesen Posten übernehmen. Weber gab am Abend offiziell sein Mandat als Spitzenkandidat der EVP zurück und verzichtete damit auch auf den Anspruch auf das Amt des Kommissionschefs. Timmermans soll den Gipfelbeschlüssen zufolge sein Amt als Vizepräsident der EU-Kommission behalten. Die französische Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, soll Präsidentin der Europäischen Zentralbank und Nachfolgerin des Italieners Mario Draghi werden.

Tusk hatte das Paket in stundenlangen Vorgesprächen mit etlichen Gipfelteilnehmern getestet, darunter Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der spanischen Regierungschef Pedro Sanchez. Auch die vier östlichen Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei unterstützen von der Leyen, wie ein ungarischer Regierungssprecher auf Twitter schrieb. Sie reklamierten sogar für sich, die Idee aufgebracht zu haben.

Für das Europaparlament ist der Vorschlag ein Riesenproblem. Eine Mehrheit der Fraktionschefs hatte beschlossen, nur einen der Europawahl-Spitzenkandidaten in das Amt des Kommissionschefs zu wählen. Das wären streng genommen nur Weber und Timmermans. Und nun soll es doch eine Kandidatin der Kungelrunde der EU-Staatschefs werden.

Der Vizechef der sozialdemokratischen Fraktion, Bernd Lange, twitterte bereits, Tusks Vorschlag sei nicht akzeptabel. Der Grünen-Europaparlamentarier Sven Giegold twitterte: „Ein bitterer Personalvorschlag! Europa verdient etwas Besseres!“ Sollte das Europaparlament von der Leyen nicht wählen, müsste der Rat der Staats- und Regierungschefs einen neuen Vorschlag unterbreiten. Im Falle eines Wechsels nach Brüssel macht von der Leyen den Sessel der Verteidigungsministerin in Berlin frei. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer winkte bereits ab. In Berlin gehandelt wird dagegen Jens Spahn – noch Gesundheitsminister.

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