Von der Leyen bangt in Brüssel

Das kleinere Übel

von Redaktion

CHRISTIAN DEUTSCHLÄNDER

Kluge politische Kämpfe funktionieren wie das Armdrücken. Wer vom Gegner schon beinahe bis auf die Tischplatte gepresst wird, kann sich die Kräfte auch für die nächste Runde aufheben. Dieser Einsicht nähern sich viele Anhänger des demokratisch vernünftigen Spitzenkandidaten-Systems in Europa. Ihre Bewerber haben keine Chance mehr, den Kampf diesmal zu gewinnen.

Nein, die spontan aus dem Hut gezauberte Ursula von der Leyen ist nicht die beste Wahl. Sie war keine gute Verteidigungsministerin, sie kandidierte nicht für Europa. Trotzdem ist ein Punkt erreicht, an dem von der Leyens Nichtwahl im EU-Parlament größeren Schaden anrichten würde als ihre Wahl. Das Parlament hätte durch den Teilverzicht auf Partei- und Partikularinteressen einen Spitzenkandidaten auf diesem Posten durchsetzen können, die Fraktionen haben diese Chance vertrödelt. Lehnen die Abgeordneten nun von der Leyen trotzig ab, stürzt das Europa in eine institutionelle Krise – in einem Ausmaß, dass man das Kichern und Prusten aus Peking und Washington sicher bis Brüssel vernehmen kann.

Unter anderem das Agieren der SPD, gegen eine deutsche EU-Chefin zu stimmen, wirkt dann arg kleingeistig. Aller innenpolitischer Groll auf die GroKo und Merkels Agieren ist verständlich. Wer abrechnen will, sollte das aber im Herbst in Berlin tun, nicht jetzt in Brüssel. Zur ehrlichen Analyse zählt: Von der Leyen mag nicht die perfekte Kandidatin sein, aber der torkelnde und tätschelnde Vorgänger hatte größere Schwächen. Sie ist eine polyglotte, erfahrene und sehr disziplinierte Politikerin. Am Ende liegt eine deutsche Kommissionschefin auch eher im nationalen Interesse als ein neuer Not-Kandidat aus anderen Teilen des Kontinents.

Christian.Deutschlaender@ovb.net

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