„Russland testet die Einheit der Nato“

von Redaktion

32 Jahre lang hinderte der INF-Vertrag Russland und die USA daran, atomare Mittelstreckenraketen zu bauen. Doch Russland rüstet seit einiger Zeit wieder auf. Militärstrategen fürchten, der Kreml bereite Kriege in Osteuropa vor. Andere warnen vor Hysterie.

VON MARCUS MÄCKLER

München – Der 2. August ist ein Freitag. Und wenn nicht noch ein gewaltiges Wunder geschieht, markiert er das Ende einer Ära. Dann läuft eines der wichtigsten Rüstungskontrollabkommen der jüngeren Vergangenheit aus: der INF-Vertrag. Er verpflichtete Russland und die USA zum Verzicht auf nuklear bestückbare Raketen mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern. Als Ronald Reagan und Michail Gorbatschow den Vertrag 1987 besiegelten, war das ein Meilenstein.

Alles Geschichte. US-Präsident Donald Trump hat das Abkommen gekündigt und sein russischer Kollege Wladimir Putin macht keine Anstalten, es zu retten. Stattdessen beschuldigen sich beide des Vertragsbruchs: Der Kreml fühlt sich von zwei US-Raketenabwehrsystemen in Polen und Rumänien bedroht, das Weiße Haus verweist indes auf 9M729 – oder, wie sie bei der Nato sagen: SSC-8.

Beides sind Namen für eine neue Generation landgestützter, atomar bestückbarer Mittelstreckenraketen, die Russland entwickelt hat. Sie sollen eine Reichweite von bis zu 2600 Kilometern haben – und damit klar gegen den Vertrag verstoßen. Der Kreml bestreitet das zwar, aber die Amerikaner und ihre Nato-Partner sind sich sicher. Mehr noch: Im europäischen Teil Russlands sollen an vier Standorten bereits Bataillone mit gut 60 mobilen Startrampen stationiert sein. Wenn die Geheimdienste richtig liegen, könnten die Raketen von dort aus mühelos Berlin, Paris oder Rom erreichen.

Es steht also vor allem Europas Sicherheit auf dem Spiel. Die Frage ist: Was verspricht sich der Kreml davon?

Heinrich Brauß glaubt, die Antwort zu wissen. Der Generalleutnant a.D. war bis 2018 Beigeordneter Generalsekretär der Nato für Verteidigungspolitik. In einem Beitrag für das Fachmagazin „Sirius“, den Brauß mit dem Direktor des Kieler Instituts für Sicherheitspolitik, Joachim Krause, verfasst hat, zeichnet er ein düsteres Bild der Lage. Russlands Rüstungsanstrengungen, heißt es dort, „überstiegen alles bislang Befürchtete“. Auch Schiffe und U-Boote würden mit Raketen ausgerüstet. Außerdem modifiziere Moskau „strategische nukleare Angriffssysteme so, dass diese auch gegen Europa eingesetzt werden können“.

Für die beiden Sicherheitsexperten ist all das Teil eines „strategischen Konzepts der russischen politischen und militärischen Führung, welches darauf abzielt, Kriege an der europäischen Peripherie führen und erfolgreich zu Ende bringen zu können“. Moskau wolle die Bedingungen dafür schaffen, dass die Nato nicht eingreife, selbst wenn bei einem Krieg im Baltikum der Bündnisfall einträte. Gelänge das, hätte der Kreml die Nato vorgeführt – es wäre der Anfang ihres Endes.

Hinzu kommt, dass Moskau auch an anderer Stelle versucht, die Bindung des Bündnisses zu lockern. Dass zum Beispiel der Nato-Partner Türkei russische Raketen kauft, hat in den USA große Irritationen hervorgerufen.

Für Brauß und Krause passt alles zusammen. Andere halten die Theorie für zu kurz gegriffen. Stefan Meister leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Georgiens Hauptstadt Tiflis und beschäftigt sich seit Jahren mit russischer Sicherheitspolitik. Moskau, sagt er, wolle vor allem eines: „Die Rüstungskontrollverträge neu verhandeln, weil sich die Rahmenbedingungen geändert haben.“

Meister spielt damit auf China und Indien an. Während die USA und Russland nämlich lange Verzicht übten, taten die beiden anderen das Gegenteil und rüsteten ihr Arsenal an Mittelstreckenraketen massiv auf. Russland, glaubt Meister, wolle „Druck in Richtung USA aufbauen“, um neue Verträge zu neuen Bedingungen auszuhandeln. An einem Krieg in Europa habe es kein Interesse. „Dazu ist die Nato zu stark.“

Wie auch immer das Vorgehen Russlands zu erklären ist: Die Situation ist heikel. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini warnte zuletzt vor einem neuen Wettrüsten. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg appellierte an Moskau, die „letzte Chance zu nutzen“, den Vertrag zu retten. Anderenfalls trage es die „alleinige Verantwortung für das Ende des Vertrags“.

Auch der stellvertretende CSU-Generalsekretär Florian Hahn ist besorgt. „Mir scheint, dass Russland die Geschlossenheit der Nato testet“, sagte er unserer Zeitung. Gleichzeitig warnt er aber vor Hysterie. „Wir stehen nicht unmittelbar vor einem Krieg in Europa.“ Hahn plädiert für ein neues multilaterales Abkommen, das auch andere Atommächte verpflichtet, nukleare Mittelstreckenraketen zu vernichten. Wichtig sei die Geschlossenheit der Nato. Genau die steht aber infrage, des lieben Geldes wegen. Die USA pochen immer wieder darauf, dass Länder wie Deutschland, wie vereinbart, zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung ausgeben. Davon ist die Bundesrepublik aber weit entfernt. Die Ausgaben steigen, aber nur langsam. Für 2020 liegen sie bei knapp 1,4 Prozent des BIP.

Brauß und Krause kritisieren das. Ihrer Meinung nach muss die Nato Russland die Grenzen aufzeigen: durch Abschreckung und Erhöhung der Reaktions- und Einsatzbereitschaft ihrer Streitkräfte. Bei möglichen Truppenverlegungen komme Deutschland wegen seiner Lage mitten in Europa eine zentrale Rolle zu. Umso befremdlicher sei es, dass manche Teile der Bundesregierung das Zwei-Prozent-Ziel infrage stellten.

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