Moskau – Auf Moskaus Prachtstraße, die direkt zum Kreml führt, stehen sich zwei Gruppen wie an einer Front gegenüber. Tausende Demonstranten mit Bannern auf der einen Seite, Polizisten mit Schlagstöcken auf der anderen. Der Zorn der Protestierenden richtet sich gegen die Stadtbehörden: den kreml- treuen Bürgermeister Sergej Sobjanin, die Wahlkommission und gegen die Einsatzkräfte. „Ihr seid eine Schande für Russland“, skandieren sie.
„Russland wird frei sein“, hört man noch weit in die Seitengassen hinein, wohin die Demonstranten von der Polizei gedrängt werden. Manche klettern über Absperrungen, verschwinden in Parks, einige suchen Schutz in einer kleinen Kirche im Stadtzentrum. Stundenlang ziehen sie durch die Stadt, am Ende werden mehr als 1000 Menschen festgenommen – Studenten, Familienväter und Rentner landen im Polizeibus. 3500 Demonstranten zählt die Polizei.
Viele Moskauer gehen seit mehr als zwei Wochen täglich auf die Straße, die Proteste ebben nicht ab. „Dopuskaj“ – etwa: „Lass’ sie zu“ – ist die stets wiederholte Forderung. Hintergrund ist, dass in wenigen Wochen das Stadtparlament der 12-Millionen-Metropole neu gewählt wird, aber sich auf der Wahlliste kaum Oppositionspolitiker finden. Dutzende Kandidaten durften nicht antreten; die Wahlkommission diagnostizierte schwere Formfehler.
Die bekannten Kremlkritiker Ilja Jaschin, Ljubow Sobol oder auch Dmitri Gudkow hätten Unterstützungserklärungen gefälscht, hieß es. Die Opposition hält dies für ein plumpes Manöver. Sie könnten der angeschlagenen Kremlpartei Geeintes Russland Stimmen wegnehmen.
Die Regierungspartei mit ihrem Vorsitzenden Dmitri Medwedew kämpft nämlich an einer eigenen Front: Die Bevölkerung macht sie für die schlechte Wirtschaftslage im Land verantwortlich. Sie hat eine umstrittene Rentenreform durchgebracht, gleichzeitig sinken neben Löhnen auch der Lebensstandard. Für Geeintes Russland könnte die Regionalwahl, in der auch über 16 Gouverneure in der Provinz abgestimmt wird, dramatisch ausfallen.
„Seien wir ehrlich: Uns geht es beschissen. Die Renten sind niedrig, das Gesundheitssystem ist ein Witz. Wir wollen was ändern, werden daran aber vom System gehindert“, sagt die Moskauerin Irina bei der Demonstration und deutet auf das Rathaus hinter ihr. Vom majestätisch wirkenden Balkon des Bürgermeisters wehen die Stadtfahne und die Flagge Russlands. „Wir haben eine Meinung, und Sobjanin soll wissen, dass wir dieses Vorgehen nicht gut finden“, sagt ihre Freundin Margarita.
Gudkow und Sobol schafften es nicht mal zum Protest, sie wurden bereits auf dem Weg zur Demo festgenommen. Genauso erging es Putins schärfstem Kritiker Alexej Nawalny, der am Sonntag wegen einer akuten allergischen Reaktion vom Gefängnis aus in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste. Er hatte zuvor federführend zu dem Protest aufgerufen und daraufhin 30 Tage Arrest kassiert. Büros und Wohnungen der Politiker wurden durchsucht, der Oppositionssender Doschd TV bekam bei einer Livesendung Besuch von der Polizei.
„Ich habe immer Angst vor der Festnahme. Jedes Mal, wenn ich zum Protest auf die Straße gehe“, flüstert Natalja. Sie sitzt auf einer Parkbank mitten im Geschehen, in der Hand hält sie den Tolstoj-Klassiker „Krieg und Frieden“. Hinter ihr steht ein Polizist mit Schlagstock in der Hand. „Aber noch mehr Angst habe ich vor der Zukunft: Dass diese Schummeleien und Manipulationen Alltag werden.“
Das denken einer Umfrage zufolge viele Russen. Sie fühlen sich bei wichtigen Entscheidungen übergangen, wie eine Befragung des Umfrageinstituts Lewada ergab. In ganz Russland gibt es oft Fälle, bei denen umstrittene Gesetze oder auch Bauvorhaben ohne Bürgerbeteiligung einfach durchgedrückt werden. Deshalb regt sich lokaler Widerstand, wie in Jekaterinburg am Ural, wo sich die Bewohner wegen eines Kirchenbaus gegen die einflussreiche Russisch-Orthodoxe Kirche zur Wehr setzten.
Präsident Wladimir Putin kommentierte die Lage wenige Minuten von seinem Arbeitsplatz am Kreml entfernt nicht. Am Protesttag tauchte er in einem Mini-U-Boot am Finnischen Meerbusen. Sein Statthalter Sobjanin kommentierte die Lage knapp auf Twitter: „Das alles führt zu nichts Gutem.“