Wielun/Warschau – Die losheulenden Alarmsirenen gehen durch Mark und Bein. Es ist 4.40 Uhr am Sonntagmorgen und noch dunkel in Wielun. Eine Ehrengarde ist aufmarschiert und steht stramm. Hunderte Menschen haben sich trotz der frühen Stunde auf dem Marktplatz der polnischen Kleinstadt versammelt, manche mit Kerzen in der Hand.
Auch auf den Tag genau vor 80 Jahren um eben diese Zeit erfüllte ein Heulen die zwischen Lodz und Breslau (Wroclaw) gelegene Kleinstadt in Polen. Es war das Heulen deutscher Sturzkampfbomber. Sie jagten aus dem Himmel auf die Stadt hinunter und lösten ihre todbringende Bombenlast aus. Wielun und nicht – wie lange Zeit von deutscher wie polnischer Seite offiziell erklärt – die Danziger Westerplatte war das erste Ziel des deutschen Überfalls auf Polen und der Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939. Der Angriff auf die wehrlose Bevölkerung der militärisch nicht gesicherten Stadt war auch das erste schwere Kriegsverbrechen der Wehrmacht.
80 Jahre später wird das grausame Geschehen wieder lebendig. In einer Video-Animation auf einer Hauswand am Marktplatz fliegen nochmals die Sturzkampfbomber, fallen die Bomben, fliehen die Menschen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht hier zusammen mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda. Hier, wo „die Spur der Gewalt und Vernichtung ihren Anfang nahm, die sich sechs Jahre lang durch Polen und ganz Europa ziehen sollte“, wie Steinmeier dann sagt. Ihm sei bewusst, „dass es ganz und gar nicht selbstverständlich ist, dass ein deutscher Bundespräsident heute hier vor Ihnen stehen darf“. „Dieser Krieg war ein deutsches Verbrechen“, sagte Steinmeier später beim Weltkriegsgedenken in der Hauptstadt Warschau. „Ich bitte um Vergebung für Deutschlands historische Schuld. Und ich bekenne mich zu unserer bleibenden Verantwortung.“
Als bekannt wurde, dass Polen hier eine Veranstaltung mit zahlreichen Staats- und Regierungschefs organisierte, kam in Berlin die Befürchtung auf, das eigentliche Gedenken könnte in den Hintergrund gedrängt werden. Dass US-Präsident Trump wegen des Hurrikans „Dorian“ kurzfristig absagte und seinen Vize Mike Pence nach Warschau schickte, kam daher nicht ungelegen.
Für Pence und dessen Boss Trump hat Steinmeier eine Botschaft: Die jahrzehntealten transatlantischen Beziehungen dürften nicht aufs Spiel gesetzt werden. Ja, Europa müsse stärker und selbstbewusster werden, es brauche aber Partner. „Und ich bin sicher, auch Amerika braucht Partner in dieser Welt.“ Pence antwortet darauf nicht. Er schmeichelt mehr dem „mutigen polnischen Volk“, lobt dessen heldenhaften Freiheitskampf.
Zofia Burchacinska und Jozef Stepien sind Überlebende des Bombenhagels von Wielun und treffen Steinmeier im Museum der Stadt. Sie wünsche sich eine Entschuldigung des Bundespräsidenten, hatte Burchacinska vor dem Besuch erklärt. Nun, da sie seine Rede gehört hat, sagt sie: „Er hat um Vergebung gebeten und wir vergeben.“