Kanadas entzauberte Lichtgestalt

von Redaktion

Premierminister Justin Trudeau muss nach zahlreichen Affären um seine Wiederwahl bangen

Vancouver – Der Kampf ums politische Überleben hat seit Mittwoch offiziellen Charakter. Kaum war das kanadische Parlament aufgelöst und die Neuwahl für den 21. Oktober angesetzt, machte sich Justin Trudeau in Ottawa auf den Weg. Ziel war Vancouver, wo die liberale Partei des Premierministers den Wahlkampf eröffnete. Trudeau hat keine Zeit zu verlieren, denn für ihn steht viel auf dem Spiel. Bis zum Wahltag im zweitgrößten Land der Erde wartet viel Arbeit.

Die neuesten Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen der Liberalen mit der konservativen Opposition voraus, wobei sich Trudeaus Beliebtheitswerte, die durch Skandale, Affären und negative Schlagzeilen abgestürzt waren, zuletzt erstmals wieder leicht erholten.

Trudeau (47) kam 2015 an die Macht und galt als Senkrechtstarter und liberale Lichtgestalt. Der Sohn von Ex-Premier Pierre Trudeau versprach, das Land zu modernisieren, den Ureinwohnern mehr Rechte zu geben, den Klimawandel zu bekämpfen und das Land für Zuwanderung offen zu halten. Sein jugendlich-eloquenter Auftritt und sein einnehmendes Wesen überstrahlten alles. Trudeau setzte sich mit Selfies und bunten Socken in Szene und sah sich als eine Art Gegenpart zum lärmenden Donald Trump. Er trat auf Christopher-Street-Day-Paraden auf, besetzte sein Kabinett zur Hälfte mit Frauen und legalisierte Marihuana.

Doch nach etwa der Hälfte der Legislaturperiode begann sein Stern zu verblassen. Bei einer Indien-Reise trat Trudeau samt Familie in traditionellen indischen Gewändern auf, was ihm Hohn und Spott einbrachte. Eine Urlaubsreise auf die Privatinsel des Milliardärs Aga Khan in der Karibik endete als PR-Desaster. Noch schwerer wiegen seine ethischen Verfehlungen. In der SNC-Lavalin-Affäre setzte Trudeau seine Ex-Justizministerin unter Druck, um dem gleichnamigen Unternehmen aus seiner Heimat Québec bei einem Korruptionsprozess zu helfen. Das brachte ihm den Vorwurf der Justizbehinderung und sogar eine Strafe des Ethikbeauftragten ein.

Zwei seiner wichtigsten Ministerinnen verließen sein Kabinett und wurden später von Trudeau aus der Partei verbannt, was seinem Image als „Feminist“ empfindlich schadete. Am Mittwoch wurde bekannt, dass die Bundespolizei eine der Ex-Ministerinnen interviewt hat. Das könnte am Ende zu formalen Ermittlungen gegen den Premier führen.

Profitieren könnte Trudeau von den Wirtschaftsdaten. Kanadas Arbeitslosenquote liegt bei 5,7 Prozent, so niedrig wie seit 40 Jahren nicht. Bei seinem Amtsantritt waren es sieben. Mit seiner jugendlichen Frische wird Trudeau allerdings nicht mehr punkten können – sein Hauptgegner ist sieben Jahre jünger. Andrew Scheer, Parteichef der Konservativen, ist 40 und tritt als personifiziertes Gegenmodell auf. Scheer will Zuwanderung begrenzen, Umweltsteuern stoppen und umstrittene Ressourcenprojekte vorantreiben. Er gilt als blass und unscheinbar. Das könnte ihm im Wahlkampf aber sogar helfen. So wird er als solide Alternative zum affärengeplagten Premier wahrgenommen. JÖRG MICHEL

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