Verhängnisvoller Lockruf der Heimat

von Redaktion

Hans Reichhart dürfte 2020 das Söder-Kabinett verlassen – In der CSU galt er als großes Talent

München – Als der junge Herr Minister das erste Mal sein neues Büro betrat, Ende 2018 war das, war so weit alles in Ordnung, nur der Schreibtisch zu niedrig. Hans Reichhart hätte mit einem Fingerschnippen einen neuen bestellen können, die Staatskasse zahlt’s ja. Die Ministerialbeamten hätten in Windeseile neues Mobiliar herbei geschafft. Der zweifache Familienvater löste das Problem unkonventioneller: Mit vier Bauklötzen, eines unter jedem Bein, bockte er den Tisch auf. Sieht komisch aus. Aber hält. Bis heute.

Reichhart, 37, ist zweifellos einer der Uneitelsten im Kabinett Söder, eine hervorstechende Eigenschaft in der CSU. Viele sehen im früheren Chef der Jungen Union (bis vor wenigen Wochen im Amt) auch deshalb eines der Talente der Partei. Umso überraschender kommt jetzt Reichharts Entscheidung, den Münchner Ministertisch aus freien Stücken bald zu verlassen. Er kandidiert im März als Landrat in seiner Heimat Günzburg. Falls er gewählt wird, muss er spätestens zum 1. Mai als Bau- und Verkehrsminister zurücktreten. (Falls er nicht gewählt wird, ist die Karriere eh im Eimer.)

Landrat zu sein, hat in Bayern Gewicht, die Machtstellung ist lokal sehr groß. Dass ein Minister dafür sein Amt aufgibt, passiert aber extrem selten. Eher ist es umgekehrt, dass bei erfolgreichen Landräten die Medien jahrelang spekulieren, wann denn endlich der Ruf nach München erfolgt; der Niederbayer Christian Bernreiter kann da ein Lied davon singen.

Dass Reichhart wechseln will, dürfte mit erheblichem Druck von seiner Günzburger Parteibasis zusammenhängen. Für die CSU sind selbst in Schwaben Landratswahlen kein Selbstläufer mehr; mit dem jungen Juristen, der kein geföhnter Sunnyboy ist, aber im persönlichen Gespräch Menschen gewinnt, erhofft sich die lokale CSU größte Chancen. Druck von Söder oder gar den Wunsch, Reichhart loszuwerden, war nicht erkennbar. Im Ministerrat war der Bauminister einer der Aktiveren, fleißig, gut im Umgang mit Medien. Er machte Schlagzeilen mit Vorstößen zur Wohnungspolitik und zum S-Bahn-Ausbau.

Machtpolitisch war Reichharts Lage bei genauem Hinschauen aber mindestens so wackelig wie sein Schreibtisch. Er hat als einziger Minister kein Landtagsmandat. Die schwäbische CSU hatte ihm kein Direktmandat gegeben, das besetzt der 69-jährige Strippenzieher und Seehofer-Intimus Alfred Sauter. Reichhart war also vollkommen auf das Wohlwollen Söders angewiesen.

Der Ministerpräsident, von Reichhart dem Vernehmen nach vor einer Woche informiert, nennt den Rückzug „schade“ und äußert viel Lob. Es dürfte ihm ungelegen kommen, auf den jungen Minister zu verzichten. Auch, weil das Aufgabenfeld im erst kürzlich formierten Ressort mit dem Kampf gegen Wohnungsnot und Verkehrskollaps riesig ist. Eine Nachfolge soll erst 2020 geregelt werden. Kandidaten sind bisher nicht in Sicht. Der Regionalproporz legt eine schwäbische Lösung nahe.

„Ich werde mein Amt weiterhin mit voller Kraft ausüben“, gelobt der Noch-Minister. Die Opposition bezweifelt das. Bayern brauche einen Vollzeit-Verkehrsminister, spottet zum Beispiel Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann. „Neben der CSU-Nullstelle Andreas Scheuer in Berlin nur eine CSU-Halbtagskraft in Bayern – das ist zu wenig für eine funktionierende Mobilitätswende in Bayern.“ Auch FDP und AfD fordern einen sofortigen Rücktritt.  cd

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