Sternstunde für das Parlament

von Redaktion

Im Brexit-Streit wird es für Boris Johnson zunehmend bedrohlich. Sein Plan, das Parlament kaltzustellen, flog dem Premierminister durch das Urteil des obersten britischen Gerichts um die Ohren. Welche Optionen hat Johnson noch?

VON CHRISTOPH MEYER UND SILVIA KUSIDLO

London/New York – Als die Vorsitzende des obersten britischen Gerichts, Lady Brenda Hale, ihr Urteil verkündet, ziert eine handtellergroße Brosche in Form einer Spinne ihren Kragen. Beinahe bedrohlich sieht das aus und bedrohlich dürfte für den Premierminister klingen, was Hale mit sanfter Stimme sagt: Einstimmig hätten die elf Richter Johnsons Entscheidung, das Parlament kurz vor dem EU-Austritt am 31. Oktober zu suspendieren, als verfassungswidrig verurteilt.

„Die Auswirkung auf die Fundamente unserer Demokratie waren extrem“, sagt Hale zu der fünfwöchigen Zwangspause. Mit dem EU-Austritt stehe ein grundlegender Wandel in der britischen Verfassung an. „Das Parlament und besonders das Unterhaus als die gewählte Volksvertretung hat das Recht auf eine Stimme darüber, wie diese Veränderung geschehen soll“, so Hale.

Damit ist nun höchstrichterlich festgestellt, was Johnson von seinen Kritikern seit Langem vorgeworfen wird: Er versucht, die ungeschriebene britische Verfassung auszuhebeln, um seine Ziele zu erreichen. Damit ist er bislang gescheitert. Johnson, der es gewohnt ist, flink wie eine Fliege den Hieben seiner politischen Gegner auszuweichen, hat sich im Netz seiner Winkelzüge verfangen. Je mehr er agiert, desto eingeschränkter scheint sein Bewegungsspielraum.

Die Niederlage vor Gericht ist die jüngste in einer Reihe von Schlappen, die Johnson einstecken musste. Noch hat er keine einzige von bisher sechs Abstimmungen im Parlament gewonnen, seit er Ende Juli in den Regierungssitz Downing Street 10 einzog. Im Gegenteil, seine ohnehin minimale Mehrheit schmolz dahin, auch durch eigenes Zutun: Johnson verbannte 21 proeuropäische Abgeordnete aus seiner Fraktion, nachdem sie gegen ihn gestimmt hatten. Zudem verpflichtete ihn das Parlament per Gesetz dazu, notfalls eine Verschiebung des EU-Austritts zu beantragen, sollte er nicht rechtzeitig einen Deal mit Brüssel zustande bringen. Zwei Mal scheiterte er daraufhin mit dem Versuch, Neuwahlen herbeizuführen. Trotzdem droht der Regierungschef weiter mit einem No-Deal-Brexit.

Was hat Johnson vor? Mancher Beobachter glaubt, das alles sei Teil eines sinistren Plans seines Beraters Dominic Cummings. Der ehemalige Leiter der Brexit-Kampagne „Vote Leave“ im Referendum 2016 sei längst wieder im Wahlkampfmodus, heißt es. Er will Johnson demnach als Verfechter des Volkswillens aufbauen, der gegen die elitären Kreise von Richtern und Abgeordneten kämpft, um das Ergebnis des Brexit-Referendums durchzusetzen. Die „Times“ zitierte Cummings kürzlich unter Berufung auf Regierungskreise mit der unheilvollen Ankündigung: „Dies ist erst der Beginn der Verfassungskrise.“

Kann das aufgehen? Johnson hat mit der Wiedereinberufung des Unterhauses die Möglichkeit, erneut über eine vorgezogene Parlamentswahl abstimmen zu lassen. Die notwendige Zweidrittelmehrheit scheint weiter unerreichbar. Die Opposition will auf keinen Fall das Parlament auflösen, bevor ein EU-Austritt ohne Abkommen ausgeschlossen ist.

Im Prinzip bleiben Johnson daher nur zwei Optionen: entweder doch noch rechtzeitig einen Deal mit der EU zu schließen und diesen durchs Parlament zu bringen, oder per Rücktritt oder Misstrauensvotum aus dem Amt zu scheiden und damit früher oder später eine Neuwahl herbeizuführen. Das Problem ist, dass beides mit großen Risiken für den Premierminister verbunden ist.

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