Einigung im Brexit-Streit

Das gespaltene Königreich

von Redaktion

MIKE SCHIER

Der scheidende Kommissionschef Jean-Claude Juncker wollte auch im Moment seines späten Triumphes die Prioritäten nicht aus den Augen verlieren: „So sehr ich das Ergebnis des Referendums vom 23. Juni 2016 zutiefst bedauere…“ begann er gestern seinen Brief, in dem er Ratspräsident Donald Tusk über den Durchbruch bei den Verhandlungen mit Boris Johnson unterrichtete. Und er hat völlig recht: Die Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, bleibt ein historischer Fehler. Doch unter den gegebenen Umständen ist ein geordneter Austritt des Königreichs viel besser als ein chaotischer, der angesichts der Rhetorik aus London zuletzt unausweichlich schien.

Das wusste natürlich auch Boris Johnson. Die ganze Zeit. Bei all den Vergleichen, die den britischen Premier als kleinen Bruder im Geiste von Donald Trump sehen, wurde stets übersehen, dass Johnson zwar ein skrupelloser Machtpolitiker ist, aber eben doch zu klug, um die totale Eskalation zu wagen. Nur: Letztlich erreichte er mit seiner harten Linie zwar neue Verhandlungen mit Brüssel, musste dort aber breite Zugeständnisse machen. Kein Wunder, dass die Ablehnung nun von der nordirischen DUP über Labour und die schottische SNP bis hin zum EU-feindlichen Populisten Nigel Farage reicht. Man braucht eine Menge Fantasie, um sich vorzustellen, wie Johnson da bis Samstag eine Mehrheit im Unterhaus organisieren könnte. Vermutlich baut er allein darauf, dass die EU bei einer Ablehnung im Parlament eine weitere Fristverlängerung verweigert und damit der harte Brexit einträte. Johnson würde dann dank Brüssler Drohungen siegen – es wäre pure Ironie!

Das eigentliche Problem aber sitzt viel tiefer und hat sich vom politischen Tagesgeschäft entkoppelt: Wie in den USA stehen sich auch in der britischen Gesellschaft inzwischen große Teile völlig unversöhnlich gegenüber. Befeuert wird die Spaltung in sozialen Netzwerken, von großen Medien und zuletzt auch noch vom Premier. Mit seiner scharfen Rhetorik wühlte Johnson das Königreich immer weiter auf, so wie Trump die USA. Ganz egal, wie die Brexit-Frage endet und ob am Ende ein (wieder knappes) zweites Referendum die finale Entscheidung bringt: Die Premierminister nach Johnson werden viele Jahre brauchen, um die Wunden dieses Kampfes zu heilen.

Mike.Schier@ovb.net

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