„Johnson opfert nordirische Interessen“

von Redaktion

Politologe Nicolai von Ondarza sieht im Brexit-Abkommen eine Gefahr für den Friedensprozess

Herr von Ondarza, Knackpunkt der Brexit-Verhandlungen war bis zuletzt Nordirland. Wie sieht die Lösung nun aus?

Statt ganz Großbritannien in einer Zollunion mit der EU zu halten, soll Nordirland weiter die Regeln des EU-Binnenmarkts und die EU-Zollregeln anwenden, um die Grenze zur Republik Irland offen zu halten – und darum geht es ja. Neu ist unter anderem, dass das nordirische Parlament alle vier Jahre über die neuen Regeln abstimmen kann. Die Lösung ist ziemlich komplex.

Viele Nordiren sind entsetzt. Nachvollziehbar?

Nun ja, Boris Johnson opfert nordirische Interessen, weil er akzeptiert, dass es Zollkontrollen zwischen der Insel Großbritannien und Nordirland geben wird. Theresa May sagte 2018 zu einem sehr ähnlichen Vorschlag: „Kein britischer Premier könnte das je unterschreiben.“ Auch die London-freundliche DUP lehnt die Lösung ab – und das ist für den Friedensprozess in Nordirland relativ kritisch.

Inwiefern?

Belfast hat seit mehr als 1000 Tagen keine Regierung mehr, weil die großen Parteien DUP und Sinn Fein sich nicht einig wurden. Jetzt kommt ein Abkommen dazu, das Teile der Politik und der Bevölkerung nicht akzeptieren. Man hat also einerseits Sprengkraft aus dem Brexit genommen, weil die Grenze zu Irland offen bleibt. Andererseits sind jene im Land, die Teil Großbritanniens bleiben wollen, unzufrieden. Das birgt Zündstoff.

Das Problem wurde also bloß verlagert?

Man muss erst mal sagen: Die EU hat es geschafft, Solidarität mit ihrem Mitglied Irland zu zeigen, indem sie eine harte Grenze zu Nordirland verhindert hat. Es ist aber nicht gelungen, alle Parteien zu überzeugen. Das wird es langfristig schwierig machen, die Zustimmung zu den neuen Regeln aufrecht zu erhalten.

Angenommen, Nordirland würde den Regeln in vier Jahren (plus zwei Jahren Übergangszeit) nicht mehr zustimmen. Was dann?

Dann werden sie nach zwei weiteren Jahren hinfällig und es würde tatsächlich die harte Grenze auf der irischen Insel entstehen. Aber das wäre frühestens 2026 oder 2028 der Fall. Außerdem reicht für eine Zustimmung eine einfache Mehrheit im Parlament, es ginge also ohne die DUP. Und sollte es bis dahin noch immer keine Regierung geben, gilt die Zustimmung automatisch als erteilt.

Aber das heißt, die Nordirland-Frage ploppt alle vier Jahre wieder auf…

Genau, aber die Hoffnung ist, dass die Zustimmung zur Formalität wird, wenn die neuen Regeln etabliert sind.

Wer hat sich mehr bewegt – die EU oder London?

Beide haben Zugeständnisse gemacht, aber Johnson hat durch seine Zustimmung zu Zollkontrollen den Weg zur Einigung geebnet. Ganz im Gegensatz zu seiner Rhetorik übrigens, die ja sehr konfrontativ war.

Alles könnte noch am britischen Parlament scheitern, das am Samstag abstimmt.

Stimmt, es sieht knapp aus. Wenn das Parlament den Vertrag ablehnt, greift das Anti-No-Deal-Gesetz und Johnson müsste die EU um eine Verschiebung des Austritts bitten. Ich würde aber auch die zweite Möglichkeit nicht ausschließen: ein Referendum über den neuen Deal. Im Moment gibt es für keine Option eine sichere Mehrheit. Es wird auf jeden Abgeordneten ankommen. Zuletzt hat das Parlament übrigens während des Falklandkriegs an einem Samstag getagt. Das zeigt die Tragweite der Entscheidung.

Interview: Marcus Mäckler

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