Johnson will Neuwahlen – hat aber keine Mehrheit dafür

von Redaktion

Nach erneuter Abstimmungsniederlage im Unterhaus: Tusk wirbt für erneute Fristverlängerung beim Brexit

London/Brüssel – Wie immer beim Brexit ist es leichter zu sagen, was nicht ist. Es gibt nach einem spektakulären Machtkampf in London keinen ratifizierten Vertrag für einen geregelten EU-Austritt Großbritanniens. Und so gibt es nach menschlichem Ermessen auch keinen Brexit zum vorgesehenen Termin an Halloween. Er wird wohl nochmals verschoben. Alles andere? „Prognosen zum Vereinigten Königreich sind immer extrem schwierig“, sagt Brexit-Experte Fabian Zuleeg vom European Policy Centre in Brüssel.

Boris Johnson erweckte gestern den Eindruck, als hätte sich nach dem Showdown am Vorabend im Unterhaus nicht wirklich etwas geändert. „Ich glaube immer noch, dass es im Interesse dieses Landes ist, den Brexit am 31. Oktober zu vollziehen“, rief er kampfeslustige im Parlament. Aber es fällt Johnson immer schwerer, so zu tun, als hätte er das Heft des Handelns in der Hand. „Ich fürchte, wir müssen sehen, was unsere Freunde in der EU entscheiden werden“, räumte er zähneknirschend ein.

Am Tag zuvor war der machtbewusste Premier nach allen Regeln der parlamentarischen Kunst ausgebremst worden. Eine klare Mehrheit hatte seinen Crashkurs missbilligt, mit dem er den neuen Austrittsvertrag in nur drei Tagen durchs Unterhaus boxen wollte. Die Abgeordneten sagten Nein, was Johnson wiederum dazu bewog, das Gesetzgebungsverfahren auf Eis zu legen.

Stattdessen schielt er nun auf eine Neuwahl noch vor Weihnachten. Doch auch das liegt nicht in seiner Macht. Er braucht die Opposition. Dort gibt es zwar eine gewisse Sympathie, die Angelegenheit möglichst rasch dem Wähler vorzulegen. Aber der Oppositionschef Jeremy Corbyn von der Labour-Partei scheint es vorzuziehen, die Gesetzgebung zu Johnsons Deal weiter durch das Unterhaus zu bringen – und ihn über Änderungsanträge nach eigenen Vorstellungen umzumodeln. Johnson ist jetzt gezwungen, das zu tun, was andere wollen: Opposition, EU,Parteifreunde, Gerichte. Der Spott von Brexit-Pionier Nigel Farage ist ihm sicher. Großbritannien liege nun praktisch „tot im Graben“, schrieb Farage auf Twitter.

Auf EU-Seite sind Überdruss und Ratlosigkeit über die britische Selbstblockade längst mit Händen zu greifen. Tusk empfiehlt den EU-Staaten, das Brexit-Datum auf den 31. Januar zu schieben. Dazu bekannte sich öffentlich auch sofort der irische Regierungschef Leo Varadkar, dessen Land vom Brexit am meisten getroffen wird. Gestern Abend sprachen sich die 27 EU-Staaten dann grundsätzlich für eine Fristverlängerung aus, die konkrete Dauer ist aber noch offen.

Wie schon im Frühjahr grummelt Frankreich. Wozu denn eine Verschiebung dienen solle, fragte Europa-Staatssekretärin Amélie de Montchalin in Paris. Wie London die Zeit zu nutzen gedenke? „Wir werden Ende der Woche sehen, ob eine rein technische Verlängerung von einigen Tagen gerechtfertigt ist“, meinte sie kühl. Die Bundesregierung signalisierte zwar, dass an ihr eine Verlängerung nicht scheitern wird. Doch auch Außenminister Heiko Maas forderte: „Vor allen Dingen müssen wir wissen, was die Briten vorhaben und was Johnson vorhat.“

MICHAEL DONHAUSER

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