Damaskus – Der Oktober hätte ein guter Monat für die Terrormiliz IS werden können. Weil die Türkei mit der Kurdenmiliz YPG einen der ärgsten Gegner der Extremisten angriff, witterten diese ihre Chance zu einem Wiederaufstieg. Doch alle Fantasien der Dschihadisten, das selbst ernannte Kalifat neu zu errichten, sind mit dem Tod von IS-Chef Abu Bakr al-Bagdadi unrealistischer geworden. Die Terrormiliz hat mehr verloren als nur einen Anführer.
Al-Bagdadi, 1971 im Irak geboren, war der Mann, der dem IS einen Aufstieg ermöglichte, den selbst Experten kaum erwartet hätten. Als er 2010 an die Spitze der Terrormiliz rückte, schien diese eigentlich besiegt. Stattdessen überrannten Al-Bagdadis Truppen vier Jahre später große Teile des Iraks und Syriens. Er selbst ernannte sich zum „Kalifen“. Und stand damit auf einer Stufe mit dem früheren Al-Kaida-Chef Osama bin Laden. Al-Bagdadi war für radikale Muslime die Symbolfigur im Kampf gegen „Ungläubige“, „Abtrünnige“ und eine westliche Welt, die sie als verkommen ansehen.
Die neuesten Militäroperationen haben die Terrormiliz doppelt schwer getroffen, weil mit IS-Sprecher Abu Hassan al-Muhadschir auch eine zweite prominente Führungsfigur getötet worden sein soll. Er war die Stimme des IS, die dem Westen in wütenden Audiobotschaften mit „Seen aus Blut“ drohte.
Und doch gilt das Gleiche wie nach der Zerstörung der letzten syrischen IS-Hochburg Baghus im Frühjahr: Die Terrormiliz hat eine schwere Niederlage erlitten, doch besiegt ist sie nicht. Laut einem Bericht der US-geführten Anti-IS-Koalition vom Juni halten sich in Syrien und im Irak noch 14 000 bis 18 000 IS-Anhänger auf. In Lagern beider Länder leben Familien von IS-Kämpfern mit entwurzelten Kindern ohne Bildung und Perspektive, aus denen die Extremisten ihren Nachwuchs rekrutieren können.
Fachleute rätseln darüber, was der Ort zu bedeuten hat, an dem Al-Bagdadi getötet wurde. Einer der meistgesuchten Terroristen der Welt starb in dem Dorf Barischa im Nordwesten Syriens unweit der türkischen Grenze. Al-Bagdadi soll dort in dem Haus eines Anführers der Extremistengruppe Hurras al-Din untergekommen sein – die zum Terrornetzwerk Al-Kaida gehört – und das ist eigentlich mit dem IS tief verfeindet. JAN KUHLMANN