München – So viel Harmonie ist in dieser Koalition selten. Einträchtig lächelnd sitzen die Mitglieder des Kabinetts um einen ovalen Tisch im Kanzleramt, von Bildungsministerin Anja Karliczek ganz links bis zu Jens Spahn, dem Leiter des Gesundheitsressorts. Knapp zwei Dutzend Macher, so soll es das Bild vermitteln, mit dem die Bundesregierung ihre Halbzeitbilanz illustriert. Und tatsächlich liest sich die Überschrift der GroKo-Bestandsaufnahme so, als würde hier unermüdlich an den großen Schwungrädern gedreht: „Viel erreicht – viel bleibt zu tun.“
Rhetorisch ist das nicht ungeschickt. Man preist seinen Fleiß an, ohne zu verheimlichen, dass das natürlich noch längst nicht alles sein kann. Was genau die GroKo allerdings umgesetzt, angestoßen oder auch nur auf die etwas längere Bank geschoben hat, das muss man aus dem 84-seitigen Papier erst mal herausfiltern. Oft liest es sich unspektakulärer, als es in Wahrheit ist. So wie auf Seite 49, wo die Grundrente, das Streitthema schlechthin, erwähnt wird. Das Reizwort „Bedürftigkeitsprüfung“ taucht nicht auf. Statt dessen heißt es diplomatisch, sie solle „denen zugutekommen, die sie brauchen“. Wenn sie denn irgendwann beschlossen ist. Noch läuft sie unter der Rubrik „Was wir noch vorhaben“.
An anderen Stellen ist die Koalition weiter. Von 300 Vorhaben seien „zwei Drittel auf den Weg gebracht oder vollendet“ sagt Kanzlerin Angela Merkel. „Das zeigt, dass wir arbeitsfähig und arbeitswillig sind.“ Und manche Themen gehen weit über den Koalitionsvertrag hinaus – allen voran der Klimaschutz. Als Union und SPD um ein Miteinander rangen, war der auf der Agenda noch deutlich weiter unten angesiedelt.
Weit vorne in der Bilanz geht es um die Wohltaten, die der Staat seinen Bürgern zukommen lässt. In der Familien- und Bildungspolitik ist die Koalition spendabel gewesen, darauf weist sie gerne hin. Die Kindergelderhöhung um zehn Euro, höhere Freibeträge, die Fachkräfteoffensive für Erzieherinnen und Erzieher (die aber noch sehr viel offensiver werden darf) und das „Gute-Kita-Gesetz“ für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Noch im Herbst sollen 5,5 Milliarden Euro ausgezahlt werden.
In ähnlicher Höhe werden die Schulen bedacht. Der Digitalpakt sieht vor, dass in fünf Jahren fünf Milliarden Euro in moderne Infrastruktur investiert werden. Es gibt Fördergelder für Hochschulen und Forschung, die Bafög-Erhöhung und die Einführung eines Mindestlohns für Azubis. Außerdem das sogenannte Aufstiegs-Bafög, mit dem die Weiterbildung zu Meister, Techniker oder – siehe oben – Erzieher/in gefördert wird.
Solche euphorischen Betitelungen (wie auch das „Starke-Familien-Gesetz“, das monatliche Mehrausschüttungen von bis zu 15 Euro für Familien mit kleinem Einkommen vorsieht) tauchen fettgedruckt auf. Dazu kommen das Recht zur Rückkehr von Teil- auf Vollzeit oder die künftig wieder hälftige Finanzierung der Krankenkassen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Für die Förderung von Wohneigentum wurde das Baukindergeld ins Leben gerufen, für Mieter die Mietpreisbremse bis Ende 2025 verlängert, für den sozialen Wohnungsbau fünf Milliarden Euro bis 2021 eingeplant.
Ab nächste Woche will die SPD die Bilanz auswerten und bis zum Parteitag Anfang Dezember – dem Schicksalstermin der GroKo – eine Empfehlung für den Fortbestand aussprechen zu können. Man solle deswegen „sehr gelassen auch den weiteren Wochen entgegensehen“, sagt Interimsparteichefin Malu Dreyer. So viel Harmonie muss schon sein, auch in schwierigen Zeiten. MARC BEYER