Wundersame Wandlung der Grünen

von Redaktion

Selbstbewusst, zuversichtlich, diszipliniert: Auf ihrem Parteitag benehmen sich die Grünen, als säßen sie schon im Kanzleramt. Das Spitzenduo Baerbock/Habeck triumphiert. Aber die heikelste Frage bleibt tabu.

VON TERESA DAPP UND MICHAEL FISCHER

Bielefeld – Gute Nachrichten für Nostalgiker: Es wird noch gestrickt und gehäkelt bei den Grünen – auch wenn der Workshop „Stricken für Anfänger*innen“ auf dem Parteitag in Bielefeld eher ironisch als Anleitung zum Grünsein beworben wird. Davon abgesehen sind die Grünen im Spätherbst 2019 eine ganz andere Partei als die, die in derselben Stadt vor 20 Jahren mit dem Farbbeutel-Wurf auf Außenminister Joschka Fischer Schlagzeilen machte.

Ein Hauch von Anarchie: Das war damals. Jetzt fällt in Bielefeld oft das Wort „Verantwortung“. Streitthemen werden im Hintergrund abgeräumt – und wenn das nicht klappt, gewinnen die Parteichefs ihre Abstimmungen.

Für Robert Habeck, vor allem aber für Annalena Baerbock, ist dieser Parteitag ein Triumph. Nach einer emotionalen und viel gelobten Rede bekommt sie 97,1 Prozent bei der Wiederwahl als Vorsitzende. Ex-Parteichefin Claudia Roth, die bisher mit 91,5 Prozent Stimm-Rekordhalterin war, stellt begeistert applaudierend fest: „Das ist wirklich ungewöhnlich.“

Die 90,4 Prozent für Habeck wirken dagegen fast ein wenig glanzlos, er nimmt sie auch recht nüchtern, vielleicht etwas erleichtert zur Kenntnis. Aber für die Grünen – die auch noch etwas anders zählen als andere Parteien – ist auch das exzellent. Der eine oder andere Delegierte spottet schon über sozialistische Verhältnisse.

Damit haben beide nun maximale Rückendeckung für ihr Ziel: nach der nächsten Bundestagswahl zu regieren. Darauf arbeiten Partei und Fraktion seit der vorigen Wahl hin, rechnen ihre Konzepte durch, stellen sich thematisch breiter auf – es ist kein Zufall, dass Wirtschaft und Wohnen zwei Schwerpunkte des Parteitags sind. Von der CDU kommen am Sonntag schon Avancen. Vize-Parteichef Thomas Strobl sagte der Funke Mediengruppe, er wünsche sich „Grüne, mit denen eine Zusammenarbeit gut geht“.

Strategisch könnte es dem Führungsduo ganz recht sein, dass Habeck ein paar Prozentpunkte weniger geholt hat. Denn gekoppelt an den Willen zur Macht, die Wahlerfolge der vergangenen beiden Jahre und das immer noch recht stabile Umfrage-Hoch ist die Frage, ob die Grünen einen Kanzlerkandidaten brauchen – oder eine Kandidatin. Danach werden die Grünen-Chefs seit Monaten gefragt. Das klären wir, wenn es ansteht, ist die Antwort in Endlosschleife.

Intern jubeln viele Baerbock zu. Habeck ist eben auch der Mann im Spitzenduo. Und die Grünen sind eine Partei mit großem Misstrauen gegenüber männlichen Alphatieren. Habeck unterbricht seine große Rede am ersten Abend, um die frühere Piraten-Chefin Marina Weisband über Antisemitismus sprechen zu lassen. Für die Bewerbungsrede nutzt er nicht mal die vollen zehn Minuten aus.

Dass beide Vorsitzende große Autorität genießen, zeigt sich am Sonntag, als es besonders emotional wird – und für den Vorstand auch riskant. Es geht ums Herzensthema der Grünen, den Klimaschutz. Da steckt die Partei in ihrem derzeit vielleicht größten Dilemma: Die jungen Leute von Fridays for Future bringen nicht nur Stimmen, sie machen mit ihren radikalen Forderungen auch Druck.

Gibt die Parteispitze dem nach, muss sie sich vom Traum verabschieden, in der „Breite der Gesellschaft“ Wurzeln zu schlagen und bündnisfähig in alle Richtungen zu sein. Andererseits steht die Glaubwürdigkeit bei überzeugten Ökos auf dem Spiel. Kein Wunder, dass Habeck und Baerbock mehrmals persönlich in die Bütt gehen, um etwa höhere Ausbau-Ziele für Ökostrom oder die Forderung nach Treibhausgas-Neutralität 2035 zu verhindern.

Habeck sagt, er bezweifele ja nicht, dass die Antragsteller in ihren Excel-Tabellen richtig gerechnet hätten. Aber die Gesellschaft funktioniere nun mal nicht wie eine Excel-Tabelle. Baerbock versucht, Ängste zu nehmen: „Zum Glück“ sei nicht mehr 1998, als die Grünen zwar mitregieren durften, aber keine großen Ansprüche an die SPD stellen konnten. Dann ruft sie: „Wir sind nicht das kleine Beiboot, wir können verändern im Hier und Heute.“

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