Straßburg – Es ist kurz vor neun, als Ursula von der Leyen ins noch spärlich besetzte Halbrund des Straßburger Europaparlaments tritt, die Farbe des Blazers ein kräftiges Pink, die Züge merklich angespannt. Drei Stunden später steht fest: Es kann tatsächlich losgehen für die neue EU-Kommission und ihre Präsidentin. Die Abgeordneten haben Ja gesagt, und zwar mit überraschend großer Mehrheit. 461 von 707 Parlamentariern votieren für sie.
Von der Leyen springt auf, sie strahlt, herzt ihren Vizepräsidenten Frans Timmermans neben sich, dann die Kollegen in der zweiten Reihe, die Fraktionschefs der großen Parteien, die ihr die Unterstützung organisiert haben. „Sie können sich natürlich vorstellen, dass ich sehr glücklich bin“, sagt sie wenig später den Journalisten. „Es ist ein Vertrauensvotum für eine Agenda des Wandels.“
Wie groß und wie nachhaltig dieses Vertrauen wirklich ist, muss sich aber erst noch zeigen. Die erste Frau auf dem EU-Chefposten beginnt ihr Mandat am Sonntag in einer heiklen Zeit. Der nächste Brexit-Termin steht Ende Januar an, die Konjunktur schwächelt, wichtige EU-Staaten sind sehr mit sich selbst beschäftigt, auch Deutschland. Und trotz aller demonstrierten Herzlichkeit: In den Hecken lauern Widersacher.
Die 61-Jährige hat schon für die ersten 100 Tage Großes versprochen: den Aufbruch in ein grünes, modernes und gerechtes Europa. Binnen fünf Jahren soll sich die EU für alle spürbar wandeln und demokratischer werden. Die frühere Verteidigungsministerin pocht auf eine starke geopolitische Rolle zwischen den USA und China, das macht sie gestern noch einmal deutlich. Eine echte Verteidigungsunion will sie und eine starke, verzahnte Rüstungsindustrie, eine vertiefte Währungsunion und eine digitalisierte Wirtschaft. In weiten Teilen ist ihr Programm aber rot-grün, mit ehrgeizigen Zielen beim Klimaschutz und dem Bekenntnis zu ur-sozialdemokratischen Anliegen wie Mindestlöhnen.
Das erste und vielleicht größte Projekt ist der „grüne Deal“, der Europa bis 2050 zum „ersten klimaneutralen Kontinent“ machen soll. Am 11. Dezember soll das Programm vorliegen. Dazu gehört eine Verschärfung des Klimaziels für 2030: Bis dahin sollen die Treibhausgase der EU um 50 bis 55 Prozent unter dem Wert von 1990 liegen. Zuständig für das Megathema ist Vize Timmermans.
Die neue Präsidentin hat namhafte Unterstützer. Von der Leyen wurde im Juni buchstäblich über Nacht Überraschungskandidatin der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union. Den Namen soll der französische Präsident Emmanuel Macron als erster in die Runde geworfen haben, aber auch Ungarns rechtspopulistischer Ministerpräsident Viktor Orban war begeistert von der siebenfachen Mutter, ebenso Polens rechtsnationaler Regierungschef Mateusz Morawiecki. Im EU-Parlament schaffte sie im Juli nur eine hauchdünne Mehrheit von neun Stimmen. Gestern sieht das Ergebnis ganz anders aus. Die drei größten Fraktionen – Christ- und Sozialdemokraten sowie Liberale – stimmen für sie.
Trotzdem ist das nur eine Momentaufnahme. Denn das EU-Parlament wurde bei der Auswahl übergangen. Das nehmen nicht nur etliche Abgeordnete bis heute übel, sondern dem Vernehmen nach auch Timmermans, der als Spitzenkandidat der Sozialdemokraten selbst Kommissionschef werden wollte.
Von der Leyen gibt sich trotz allem gut gelaunt und energiegeladen. Als Tochter des damaligen EU-Beamten Ernst Albrecht selbst in Brüssel geboren, fühlt sie sich als Vollbluteuropäerin. Mit den Brüsseler Gepflogenheiten spielt sie souverän – dem ständigen Wechsel der Sprachen zum Beispiel. Statt einer Brüsseler Wohnung bezieht sie im Amtssitz Berlaymont ein 25-Quadratmeter-Zimmer – das spare Sicherheitskosten und Zeit zur Anfahrt.