London – Ihren 70. Geburtstag wollte die Nato eigentlich als „Erfolgsgeschichte“ feiern. Doch der Gipfel der Staats- und Regierungschefs, der heute in London beginnt, ist von Konflikten innerhalb der mächtigsten Militärallianz der Welt überschattet. Weiter schwelt der Streit mit US-Präsident Donald Trump über die Verteidigungsausgaben, die Türkei überrumpelte die Verbündeten mit dem Einmarsch in Syrien und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron attestiert dem Bündnis gar den „Hirntod“.
Sieben Jahrzehnte nach der Nato-Gründung sollte der Gipfel eigentlich beweisen, dass die Organisation zukunftsfähig ist. Der Weltraum wird militärisches Einsatzgebiet, die Allianz bekommt eigene Aufklärungsdrohnen und beginnt, ihre Position gegenüber der aufstrebenden Militärmacht China zu definieren. Doch nun stellt sich die Sinnfrage.
„Drei Dinge bereiten Probleme“, sagt ein Nato-Diplomat: „Das Verhalten von Donald Trump, die Türkei und Macron. Sie destabilisieren ein ohnehin schwieriges Gleichgewicht.“ Beim Gipfel gehe es „um Schadensbegrenzung“, sagt ein anderer.
„Obsolet“ nannte Trump die Nato zu Beginn seiner Amtszeit 2017. Seitdem wird er nicht müde, die europäischen Bündnispartner zu höheren Verteidigungsausgaben zu treiben – auch gestern betonte er wieder, die USA zahlten „viel zu viel“.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg versucht, den US-Präsidenten vor diesem Gipfel mit Erfolgsmeldungen ruhigzustellen: Zusätzlich 130 Milliarden Dollar hätten die europäischen Verbündeten und Kanada von 2016 bis 2020 in ihren Verteidigungsbudgets mobilisiert. Bis 2024 würden es 400 Milliarden Dollar. Das sei „beispiellos“.
Doch die Deutschen werden das Ausgabenziel von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung auch im nächsten Jahrzehnt nicht erreichen. Dass Trump das Thema weiter wichtig ist, zeigt sein Programm: Am Mittwoch gibt er ein Arbeitsmittagessen, aber nur mit den acht europäischen Ländern, die das Zwei-Prozent-Ziel bereits geschafft haben.
Macrons „Hirntod“-Äußerung speiste sich unterdessen aus Verärgerung darüber, dass die Türkei ohne Abstimmung ihre „Aggression“ in Nordsyrien gestartet hat und die USA ihre Truppen ohne „jegliche Koordinierung“ aus der Region abzogen. Der französische Präsident fragte sich gleichzeitig, welche Bedeutung die Beistandsklausel des Nato-Vertrags noch habe, und fand, dass Europa sich auch selber verteidigen könne.
Die schonungslose Analyse schockte das Bündnis. Vor allem osteuropäische Nato-Mitglieder, die sich unmittelbar durch Russland bedroht sehen, reagierten mit offener Kritik. Direkt vor dem Gipfel eskalierte der Streit. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bescheinigte Macron seinerseits den „Hirntod“. Damit gibt es großen Gesprächsbedarf in London. Washington beobachtet derweil mit Sorge, dass sich die Türkei an Russland annähert.
Als Reaktion vor allem auf Macrons Kritik soll bei dem Gipfel ein „Reflexionsprozess“ zur Zukunft der Nato eingeleitet werden, wie die Bundesregierung mitteilte. In einem Entwurf für die Abschlusserklärung werde Stoltenberg beauftragt, den Außenministern der Mitgliedstaaten einen Vorschlag zur Gestaltung dieses Prozesses zu machen. Ziel sei es, „die politische Dimension der Nato weiter zu stärken“.
Lassen sich die Gräben nicht überbrücken, könnte die Geburtstagsfeier als Krisentreffen in die Geschichte eingehen. Dann, sagt ein Diplomat, sei Russlands Präsident Putin der lachende Dritte. afp/dpa