Weiterleben nach dem Terror

von Redaktion

Vor drei Jahren raste der Terrorist Anis Amri mit einem Lkw in einen Berliner Weihnachtsmarkt. Er tötete auch Nada Cizmar, eine junge Mutter. Während die Aufklärung des Attentats stockt, versucht Cizmars Familie, mit dem Schmerz umzugehen.

VON ULRIKE VON LESZCZYNSKI

Berlin/Dresden – Die Kerze vor der Berliner Gedächtniskirche hat nun schon Tradition. Wie im letzten Jahr und im Jahr davor wollen Petr Cizmar und sein Sohn David heute ein Licht anzünden, am Gedenkort für die Opfer des Terroranschlags vom 19. Dezember 2016. David hat damals seine Mutter verloren, da war er fünf Jahre alt. Petr Cizmar verlor seine Frau Nada, die nach der Trennung eine gute Freundin geblieben war. Es gehe besser als letztes Jahr, sagt er. „Ich will nicht mein ganzes Leben diesem Anschlag opfern. Aber ich muss mit den Konsequenzen leben. Das beschäftigt mich jeden Tag zu hundert Prozent.“

David bastele noch immer für Mama, sagt sein Vater. Zuletzt sei es ein Herz aus Keramik gewesen, in Orange, Nadas Lieblingsfarbe. Außerdem haben Vater und Sohn daheim in Dresden einen Bilderrahmen gebastelt. Dort hinein kommt ein Foto von Nada, das an der Gedächtniskirche stehen soll.

Nada war 34, als der Terrorist Anis Amri sie und elf andere Menschen tötete. Mit einem Lastwagen fuhr er in den gut besuchten Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche, dabei verletzte er auch mehr als 100 Menschen. Viele der Überlebenden haben bis heute mit den Folgen zu kämpfen. Hinterbliebene wie die Familie Cizmar auch.

„Unser Leben hat nicht aufgehört“, sagt Petr Cizmar. Aber es ist anders. In der Rolle als Alleinerziehender musste sich der aus Tschechien stammende Physiker erst mal einrichten. Manchmal, erzählt er, verhielten sich Menschen anders, wenn sie erführen, warum Davids Mutter gestorben sei. „Sie denken, dass er eine besondere Betreuung braucht. Aber das möchte ich nicht. Eine Opferrolle will ich nicht für ihn.“

Als Anfang Dezember ein psychisch kranker Mann in einer tschechischen Klinik sechs Menschen erschoss, hat sich Petr Cizmar gefragt, ob man die Tat hätte verhindern können. Vermutlich nicht, meint er und sagt dann: „Bei Anis Amri war das anders. Die Behörden kannten ihn.“

Hätte der Anschlag verhindert werden können? Ein Untersuchungsausschuss im Bundestag versucht seit März 2018, den Fehlern der Behörden nachzuspüren – es waren viele. Zuletzt wurde etwa bekannt, dass das Bundeskriminalamt (BKA) Anfang 2016 Hinweise des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts (LKA) zu Amris Gefährlichkeit herunterspielte. Ein LKA-Beamter sagte vor dem U-Ausschuss, der Amri-Informant habe „aus dem Spiel genommen“ werden sollen. Das Innenministerium bestreitet die Darstellung.

Die LKA-Hinweise waren nicht die einzigen Warnungen. Auch der marokkanische Geheimdienst hatte das BKA und den Bundesnachrichtendienst auf Amri hingewiesen. Dass der Anschlag trotzdem geschah, ist nicht nur für die Opposition im Ausschuss ein Skandal: Gestern warfen FDP, Linke und Grüne den Sicherheitsbehörden „Inkompetenz“ und „falsche Gefahreneinschätzung“ vor. Auch Cizmar wundert sich. „Es ist peinlich, dass nach drei Jahren immer noch niemand sagt, wer verantwortlich ist“, sagt er. Trotz des Behördenversagens.

Während die Wahrheit nur scheibchenweise ans Licht kommt, haben die Opfer tagtäglich mit den Folgen zu kämpfen. Mindestens ein Dutzend Menschen erhielten seit dem Anschlag Pflegeleistungen, sagt Edgar Franke, Opferbeauftragter der Bundesregierung. Er allein kenne 20 Betroffene, die nach wie vor unter den psychischen Folgen dieser schrecklichen Tat litten. „Von ebenso vielen weiß ich, dass sie bislang ihrer Arbeit nicht wie vor dem Anschlag nachgehen können.“ Bisher seien 4,3 Millionen Euro an die Opfer und Hinterbliebenen des Terroranschlags geflossen.

Petr Cizmar hilft es, dass es eine Gruppe von Hinterbliebenen gibt. „Diese Menschen sind für mich so etwas wie Mitkämpfer, so verschieden sie auch mit ihrem Leid umgehen.“ Jedes Jahr treffen sie sich, auch heute.

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