Berlin – Die Innenpolitik dämmert vor sich hin, die Kanzlerin wirkt über weite Strecken ihrer letzten Amtszeit unsichtbar. Den Korrespondenten in der Hauptstadt eröffnet das ungeahnte Zeitfenster. Ein weiterer Berlin-Journalist legt einen Wälzer zur Lage der Republik nach dem Migrationsherbst 2015 vor – und rechnet mit den Werken seiner Kollegen direkt ab.
Unter dem düsteren Titel „Weimar reloaded“ präsentiert Gregor Mayntz seine Warnung vor dem Abrutschen der Demokratie. Der Vorsatz, den „Anfängen zu wehren“, habe offenkundig nicht funktioniert, analysiert er mit Blick auf (unter anderem) Populisten und AfD. Mayntz (60) liefert 640 Seiten mit Fußnoten und wissenschaftlichem Ansatz, das Ganze liest sich – vorsichtig ausgedrückt – nicht wie ein Krimi. Spannend sind aber die Passagen, in denen er den Bestseller des Berliner Kollegen Robin Alexander (44) zerpflückt.
Mayntz wirft Alexander vor, eine moderne „Dolchstoßlegende“ verbreitert und verbreitet zu haben mit seinem drei Jahre alten Buch „Die Getriebenen“. Darin schildert Alexander packend den September 2015, als die Bundesregierung erwog, die Grenzen für Flüchtlinge zu schließen – sich aber keiner diese Entscheidung zutraute.
Mayntz treibt der Begriff der „Grenzöffnung“ um. Es sei „verwegen“, dass in einer Nacht plötzlich die Grenzen „geöffnet“ worden seien. „Jeder wusste, dass die Grenzen bereits vorher offen waren, und die Aktivisten der AfD konnten ihr Glück kaum fassen, wie leicht es ihnen gemacht wurde, Ängste zu schüren.“ Alexanders Erzählung setze „eine kollektive Amnesie voraus“. Das ist recht schroff formuliert vom seit 2011 amtierenden Vorsitzenden der Bundespressekonferenz, promoviert und erfahren schon zu Bonner Zeiten als Korrespondent der wahrlich nicht reißerischen „Rheinischen Post“.
Die Abrechnung mit Alexander ist lesenswert, aber nicht Hauptzweck des Werkes. Mayntz schließt mit zwölf Thesen. Sie sind weniger kontrovers: Er ruft auf zu einem neuen Föderalismus, attraktiveren Parteien und Vereinigten Staaten von Europa. Und: „Die Demokratie muss populärer als Populisten werden.“ Das ist auch als Abgrenzung zu einem weiteren Hauptstadt-Korrespondenten zu sehen: „Bild“-Parlamentschef Ralf Schuler legte unlängst seine Thesensammlung „Lasst uns Populisten sein“ vor. Er mahnt darin: „Populismus gehört in die Mitte, nicht an die Ränder.“
Während Alexander und Schuler schwer mit Merkel und ihrer Migrationspolitik hadern, kommt die Kanzlerin bei Mayntz besser weg. „Sie weiß auf mannigfaltige Weise, wann es Zeit ist, den populistischen Bestrebungen glasklar Grenzen aufzuzeigen.“
Glasklar? So ist Mayntz’ Buch in entscheidenden Passagen nicht, lieber historisch einordnend, abwägend. Wie mit der AfD umzugehen wäre etwa: Hart abgrenzend, ja, schon, aber nicht zu hart, das wirke sonst „zusammenschmiedend“ – keine sonderlich neue Erkenntnis. In der Summe eher was fürs Studierzimmer als fürs Nachtkasterl. C. DEUTSCHLÄNDER
Weimar reloaded?
Von Gregor Mayntz, (books on demand), 640 Seiten, 22 Euro