Ernüchterte Wahlsieger

von Redaktion

Der Chef einer Fünf-Prozent-Partei wird in Thüringen Ministerpräsident – mit Wahlhilfe der AfD. Die politische Situation im Freistaat ist verfahren, der Überraschungs-Regierungschef Thomas Kemmerich muss nun ein Kabinett bilden. Wie es weiter geht, ist völlig unklar.

VON STEFAN HANTZSCHMANN UND MARC BEYER

München/Erfurt – Der Schock und die Ratlosigkeit sind vielen Abgeordneten anzusehen – auch Thomas Kemmerich selbst. Der Mann, der plötzlich Ministerpräsident Thüringens ist, steht da und nimmt die Gratulationen entgegen, er reibt sich unentwegt die Hände, als wisse er nicht so recht, wohin mit ihnen. Sehr glücklich sieht er nicht aus. Dann tritt Susanne Hennig-Wellsow auf ihn zu, die Fraktionschefin der Linken im Landtag. Sie hält einen Blumenstrauß in der Hand, aber dass ihr nicht nach herzlichen Glückwünschen zumute ist, das weiß auch Kemmerich. Hennig-Wellsow lässt das Bouquet vor seine Füße plumpsen und macht kehrt. Kemmerich blickt ihr nach und bearbeitet weiter seine Hände.

Worte und Gesten des Triumphs gibt es an diesem Tag nur bei einer Partei im Erfurter Landtag. Die AfD ist sehr zufrieden mit dem Ausgang der Abstimmung. Landeschef Björn Höcke spricht von einem „Neustart der Thüringer Politik“. Und Christoph Kindervater, ihr Kandidat, jubiliert, obwohl er im entscheidenden dritten Wahlgang keine einzige Stimme erhalten hat. „Der Plan ist völlig aufgegangen“ sagt er den „Dresdner Neuesten Nachrichten“. Ziel sei gewesen, Rot-Rot-Grün zu verhindern. In der entscheidenden Runde stimmen alle Abgeordneten seiner Fraktion für den FDP-Mann Kemmerich. Ohne dass er es ahnt, spannt ihn die AfD für ihre Zwecke ein und spricht später genüsslich von einer „bürgerlichen Mehrheit“ in Thüringen, obwohl gerade der Landesverband im Freistaat wegen seiner strammrechten Gesinnung berüchtigt ist. Der abgewählte Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), der eine Stimme weniger als Kemmerich erhält, ist fassungslos und den Tränen nah.

Fünf Jahre lang war die FDP überhaupt nicht im Parlament vertreten. Bei der Landtagswahl im Herbst lag sie nur um 73 Stimmen über der Fünf-Prozent-Hürde. Die ohnehin komplizierte Situation in Thüringen dürfte nun noch verworrener werden.

Ramelows früheres Regierungsbündnis von Linke, SPD und Grünen hat im Parlament mit 42 Sitzen keine Mehrheit, seine geplante Bildung einer Minderheitsregierung ist gescheitert. Dagegen kommen AfD, CDU und FDP zusammen auf 48 Sitze, was für eine Mehrheit reichen würde. Allerdings hatten Christdemokraten und Liberale eine Zusammenarbeit mir der AfD kategorisch ausgeschlossen. CDU-Landeschef Mike Mohring fordert Kemmerich prompt auf, sich klar von der AfD abzugrenzen. Das tut der dann auch: „Die Brandmauern gegenüber der AfD bleiben bestehen.“

Eine Minderheitsregierung aus CDU, FDP, SPD und Grünen wird es ebenfalls nicht geben. Die Sozialdemokraten verweigern umgehend ihre Gesprächsbereitschaft. Als letzte Möglichkeit bleiben eigentlich nur Neuwahlen.

Es werden aufreibende Tage werden für Thomas Kemmerich, der jetzt Ministerpräsident ist, aber auch arg ernüchtert. Im Wahlkampf hatte er noch mit einem denkwürdigen Slogan für sich – und gegen die AfD – geworben: „Endlich eine Glatze, die in Geschichte aufgepasst hat.“ An diesem Tag klingt der Satz wie blanker Hohn.

Artikel 10 von 11