„Es muss Neuwahlen geben“

von Redaktion

Der Politbetrieb wird von Thüringen völlig überrascht – Dann folgt die maximale Distanzierung

München – Der CSU-Chef hat erkennbar schlechte Laune. „Das ist kein guter Tag für Thüringen, kein guter Tag für Deutschland und erst recht kein guter Tag für die Demokratie in unserem Land“, sagt Markus Söder, als er mit ernster Miene am Nachmittag vor die Kameras tritt. Schon zuvor in der Landtagsfraktion hat der Ministerpräsident seinem Frust über Thüringen Luft gemacht. Ein „inakzeptabler Dammbruch“ sei das, schimpft Söder.

Normalerweise steht Thüringen nicht im Fokus der Bundespolitik. Die Wahl eines weitgehend unbekannten FDP-Politikers zum Ministerpräsidenten erwischt alle kalt. Keiner hat damit gerechnet. In Berlin nicht. In München nicht. Doro Bär (CSU) twittert gleich mal „Herzlichen Glückwunsch“ – später löscht sie den Tweet. Und auch die Fraktion der Bayern-FDP postet im ersten Überschwang über die Wahl eines FDP-Ministerpräsidenten ein Jubelfoto aus den Fraktionsbüros. Als man hört, dass nur die AfD die Wahl ermöglichte, wird das Bild fix wieder gelöscht. Die Thüringer Politik sei in einer „vertrackten Lage“, sagt der bayerische Fraktionschef Martin Hagen stattdessen. „Die Wahl ist weder ein Grund für Euphorie noch für platte Empörung.“

In allen Parteien wird am Mittwochmittag hektisch nach einer Sprachregelung gesucht. Journalisten aus Straßburg berichten, CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer sei erst einmal wortlos an ihnen vorbeigelaufen. Erst Stunden später meldet sich CDU-General Paul Zimiak zu Wort. Dafür umso deutlicher: „Die FDP hat mit dem Feuer gespielt und hat heute Thüringen und unser ganzes Land politisch in Brand gesetzt“, sagt er. „Umso schlimmer“ sei es, dass die CDU in Thüringen mit „Nazis wie Herrn Höcke und anderen der AfD-Fraktion“ gestimmt habe. Schließlich sagt auch AKK noch, man habe in Erfurt „ausdrücklich gegen die Empfehlungen, Forderungen und Bitten der Bundespartei“ gehandelt.

Auch in der FDP ringt man um Fassung. Mittags gibt es eine Telefonkonferenz des Präsidiums. Danach tritt Christian Lindner vor die Presse. Sein erster Satz verheißt maximale Distanzierung: „Landtagsfraktion und Landesverband der FDP in Thüringen handeln in eigener Verantwortung.“ Er erklärt, dass sich Thomas Kemmerich als einziger Kandidat einer Mitte-Partei habe aufstellen lassen – und appelliert an die anderen Mitte-Parteien, ihn nun zu unterstützen. Wenn nicht, müsse es Neuwahlen geben. Lindner macht klar: Mit ihm als Bundeschef werde es keine Zusammenarbeit mit der AfD geben. Nach wenigen Augenblicken ist alles vorbei. Lindner verschwindet, ohne auf Nachfragen einzugehen.

In der Partei aber brennt es lichterloh. „Man kann, ja soll in einer demokratischen Wahl antreten. Aber man lässt sich nicht von AfD-Faschisten wählen“, erklärt Alexander Lambsdorff, Lindners Vize in der Fraktion, am Abend. „Wenn es doch passiert, nimmt man die Wahl nicht an.“ Und die Hamburgerin Katja Suding findet: „Die Wahl in Thüringen ist ein Desaster.“ Kemmerich hätte sie niemals annehmen dürfen. „Es muss Neuwahlen geben.“ Auch Joachim Stamp, stellvertretender Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, fordert Kemmerichs Rücktritt. Und Konstantin Kuhle, innenpolitischer Sprecher im Bundestag, mahnt: „Liberale dürfen das Gift des Faschismus nicht unterschätzen, das mit der AfD in deutsche Parlamente eingezogen ist.“

Vor den Parteizentralen in Berlin und München haben sich da längst hunderte Demonstranten versammelt. Insider rechnen nicht damit, dass Kemmerich dem Druck von innen wie außen standhält. MIKE SCHIER

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