Dietzenbach – Weiße Lilien liegen zwischen roten Grablichtern vor einer Haustür in der Altstadt von Dietzenbach. Ein kleiner Zettel klebt dort: „Familie Gürbüz 2. Stock.“ Hier wohnen die Eltern eines der Opfer, die der mutmaßliche Hanauer Attentäter Tobias R. kaltblütig erschossen hat. Sedat Gürbüz war einer der Teilhaber der Shisha-Bar „Midnight“ am Hanauer Heumarkt – der erste Ort, an dem am Mittwoch die tödlichen Schüsse fielen. Der 30-Jährige ist in Dietzenbach aufgewachsen, hat bis vor vier Jahren noch dort gelebt. Ein Stockwerk weiter oben gebe es noch seine zwei Zimmer, sagt sein Vater Selahattin.
Das kleine Wohnzimmer platzt aus allen Nähten. Rund 15 Personen haben sich eingefunden, um Emis und Selahattin Gürbüz Trost zu spenden. Mehrere hundert Menschen seien am Donnerstag da gewesen, erzählt der Vater – in Wohnzimmer und Küche, in den anliegenden Wohnungen, vor dem Haus. „Die Türen waren offen, es war ein Kommen und Gehen“, sagt einer der türkischen Nachbarn. „Bei einer Hochzeit und beim Tod sind immer alle dabei, das ist unsere Mentalität.“ Familienangehörige, Freunde, Bekannte, Nachbarn, der Chef des Vaters – alle kamen, um ihr Beileid auszudrücken. „Wir sind froh, dass so viele vorbeikommen“, sagt Emis Gürbüz.
„Unsere Familie hat viele internationale Freunde“, erzählt der Vater. Und wie zur Bestätigung kommen in diesem Moment zwei Griechinnen zur Tür herein. „Mit ihren Kindern ist Sedat aufgewachsen“, heißt es aus der Runde. Die Rathausspitze habe sich bisher aber nicht blicken lassen, und auch die Vorsitzende des Ausländerbeirats sei noch nicht da gewesen. Der türkische Konsul bemühte sich aber aus Frankfurt ins Haus der Familie. Aus dem Treffen entstand der Plan, vor der Beerdigung eine große Gedenkveranstaltung für alle Opfer durchzuführen.
Sedat soll in Dietzenbach auf dem muslimischen Grabfeld beerdigt werden. Der Vater ist verzweifelt: „Unser Leben ist komplett zerstört, es gibt keinen Grund mehr zu leben.“ Doch – ein Grund ist noch da: Sedat hat einen Bruder. Sezer, zwei Jahre jünger.
„Ein sehr beliebter Junge“ sei ihr großer Sohn gewesen, erzählt Emis tränenerstickt. Er habe in Dietzenbach die Realschule besucht, in der Logistik gearbeitet und sei vor rund drei Jahren Teilhaber der Shisha-Bar geworden. Er sei stets hilfreich und respektvoll zu Älteren und Jüngeren gewesen. „Ein friedlicher Mensch, den man nie laut gehört hat.“ Er habe nie Hass erfahren, habe auch viele deutsche Freunde gehabt.
Es muss furchtbar gewesen sein, was die Eltern am Mittwochabend durchgemacht haben. Ihr jüngerer Sohn habe einen Anruf erhalten, dass „etwas Schlimmes passiert sei, dass es Tote gab“. Die Familie fuhr nach Hanau. Kein Polizist sei ihnen behilflich gewesen, keiner habe ihnen Auskunft gegeben, nur ein Pfarrer und das Rote Kreuz seien da gewesen. Zur Shisha-Bar konnten sie nicht, der Tatort war abgesperrt.
Ein bosnischer Hotelinhaber hatte Mitleid, öffnete sein Foyer für die 30 bis 40 Familienangehörigen, die nach und nach eintrafen, und bewirtete sie. „Wir waren von 23 Uhr bis morgens um 6.30 Uhr da“, sagt die Mutter – obwohl das Hotel normalerweise um 24 Uhr schließt. Nach der schlaflosen Nacht hätten sie am Donnerstagvormittag in ihrer Wohnung schließlich Besuch von zwei Polizisten erhalten, die die Todesnachricht überbrachten. „Wir fühlen uns von den deutschen Behörden ein bisschen im Stich gelassen“, sagt der Vater.
Natürlich empfinde sie Hass auf den Täter, sagt die Mutter. „Er hat meinen Sohn nicht gekannt. Er kam einfach in die Bar und schoss.“ Eine Bekannte zeigt ein Bild des 30-jährigen Sohns auf dem Handy. Dort ist ein Mann mit einem gewinnenden Lächeln zu sehen. Die Eltern können ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Der Leichnam sei von der Gerichtsmedizin noch nicht freigegeben, sagt eine Nachbarin. Auf die Frage, ob man der Familie irgendwie helfen könne, antwortet die Mutter nur: „Ich möchte endlich meinen Sohn sehen.“ ANNETTE SCHLEGL