Über die Krise an der europäisch-türkischen Grenze sprachen wir mit dem Fraktionsvorsitzenden der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament, Manfred Weber (CSU).
Die Krise an der türkisch-griechischen Grenze kommt ja nicht überraschend. Warum hat sich die EU nicht besser auf diese Herausforderung vorbereitet?
Die EU hat in den letzten Jahren in der Türkei große Verantwortung übernommen. Sechs Milliarden Euro sind von der EU für die türkischen Flüchtlingscamps und für die Schulausbildung von Flüchtlingskindern bereitgestellt worden, und knapp die Hälfte davon ist bereits in Projekte geflossen. Aber tatsächlich haben die Mitgliedstaaten versagt, weil es ihnen bisher nicht gelungen ist, die Außengrenzen ausreichend zu sichern.
Wird Viktor Orbans Kurs, die EU-Grenzen um jeden Preis zu schützen, sich jetzt durchsetzen?
Seit 2015 wird nun über die Flüchtlingspolitik debattiert, und dabei ist jedem klar geworden, dass wir beides brauchen: Entschiedenheit an der Außengrenze, damit nicht illegal nach Europa eingereist werden kann. Und Hilfsbereitschaft, ja – auch Aufnahmebereitschaft. In der aktuellen Situation unterstütze ich klar die griechische Regierung: Athen setzt durch, was Rechtslage in Europa ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Fall Spanien und Marokko gerade erst entschieden, dass auch kollektive Rückführungen möglich sind. Griechenland hält sich an EU-Recht und zeigt, dass sich Europa von Erdogan nicht erpressen lässt.
Warnschüsse der Grenzschützer, prügelnde Rechtsextremisten: Kann Europa derartige Gewalt zur Grenzsicherung erlauben, ohne die eigenen Werte zu verraten?
Der Staat darf Flüchtlinge nicht in Gefahr bringen. Aber jeder, der sich der griechischen Grenze nähert, weiß, dass sie geschlossen ist. Tränengas wurde eingesetzt, weil Flüchtlinge auf der türkischen Seite versucht haben, mit Gewalt die Grenze zu übertreten. Das Grundprinzip ist: Recht muss durchgesetzt werden.
Was würden Sie jetzt von Angela Merkel erwarten?
Alle Staats- und Regierungschefs in Europa müssen jetzt das Gespräch mit Erdogan suchen. Der türkische Präsident muss wissen, dass Europa seine Grenzen zu schützen bereit ist, dass er aufhören soll, mit dem Leid von Menschen zu spielen. Das Zweite: Wir müssen gemeinsam überlegen, wie wir in Syrien und in den Flüchtlingslagern in der Türkei, wo die Türkei Großes leistet, besser zusammenarbeiten können. Wir sind auf EU-Ebene bereit, über eine Verlängerung des Flüchtlings-Deals zu sprechen.
Welche Haltung sollte die EU in Syrien einnehmen? Erdogan wünscht sich Unterstützung bei seinem Feldzug in Idlib …
Es ist das eigentliche Versagen der EU, dass wir in Syrien zu lange nur Zuschauer waren. Die EU-Mitglieder müssen eine diplomatische Initiative wie in Libyen starten. Der zentrale Adressat ist dabei Russland. Assad hätte ohne die russische Luftunterstützung nicht die Möglichkeiten, die er in Idlib hat. Putin muss wissen, dass sein Verhalten Konsequenzen hat: Wenn kein kooperatives Verhalten zwischen Russland und der EU in dieser Frage möglich ist, muss auch über die Verschärfung von Sanktionen nachgedacht werden.
Muss die EU nicht auch Erdogan klarmachen, dass sein Einmarsch in Syrien gescheitert ist?
Der völkerrechtswidrige Einmarsch in Nordsyrien war ein Fehler, das sehen wohl inzwischen auch die türkischen Partner. Aber Schadenfreude nützt uns nichts. Wir sollten vielmehr auf den Vorschlag von Annegret Kramp-Karrenbauer zurückkommen, eine Sicherheitszone im Norden Syriens zu errichten.
Hat Europa aus der Flüchtlingskrise 2015 gar nichts gelernt?
Die Europäische Union ist heute besser auf solche Situationen vorbereitet. Es ist mehr Bewusstsein da, dass wir die Grenzen schützen müssen. Aber es ist enttäuschend zu sehen, dass bei den EU-Haushaltsverhandlungen ernsthaft der Vorschlag kam, den Frontex-Ausbau auf 10 000 Beamte nicht zu finanzieren. Diese Kurzsichtigkeit ist unfassbar, wir brauchen doch jetzt einen eigenständigen europäischen Grenzschutz – der Schutz der griechischen Grenze betrifft uns auch in Bayern.
Und was wird aus den Menschen an der türkischen Grenze?
Viele von ihnen kommen nicht aus Idlib, sondern aus den Flüchtlingscamps in der Türkei. Sie haben den falschen Versprechungen Erdogans geglaubt. Jetzt kann man sie nur bitten, wieder in ihre Lager zurückzukehren – dort haben sie zumindest ein Dach über den Kopf.
Interview: Klaus Rimpel