Ankara/Berlin/Athen – Der mit seiner Syrien-Politik unter Druck geratene türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat der EU offen mit einem neuen Massenandrang von Flüchtlingen gedroht. „Seit der Stunde, in der wir unsere Grenzen geöffnet haben, hat die Zahl derjenigen, die sich nach Europa aufmachen, mehrere Hunderttausend erreicht. Und es werden noch mehr werden. Bald wird man von Millionen sprechen“, sagte Erdogan gestern in Ankara. Die Zahlen derer, die an der Grenze warten oder sie überschreiten, variieren je nach Quelle allerdings stark.
Nach UN-Angaben harren rund 13 000 Migranten bei Kälte auf der türkischen Grenzseite zu Griechenland aus. Viele wollen weiterziehen, etliche nannten im Fernsehen Deutschland als Ziel. Griechische Sicherheitskräfte gingen erneut mit Blendgranaten und Tränengas gegen hunderte Migranten vor. Diese hatten versucht, die Grenze bei Kastanies zu passieren und nach Griechenland und damit in die EU zu gelangen, wie das griechische Staatsfernsehen berichtete.
In den sozialen Netzwerken hat ein Video eines angeblich vom griechischen Grenzschutz erschossenen syrischen Migranten für Aufsehen gesorgt. Die Regierung in Athen bezeichnete den Inhalt umgehend als falsch. „Das Video ist … fake news“, twitterte der Regierungssprecher Stelios Petsas. Petsas warnte die Medien davor, auf „die türkische Propaganda“ hereinzufallen. Dagegen gab es auf Twitter Hinweise, die für die Echtheit des Videos sprechen.
Gleichzeitig verschlimmerte sich die humanitäre Lage in Nordsyrien, wo in der letzten großen Rebellenhochburg Idlib die syrische Regierung mit russischer Unterstützung auf dem Vormarsch ist – ungeachtet des türkischen Militäreinsatzes auf syrischem Gebiet. Die Türkei hatte bereits zuvor gewarnt, sie könne und wolle keinen weiteren Ansturm von Flüchtlingen bewältigen.
Die Bundesregierung warnte Flüchtlinge und Migranten in der Türkei vor einem Aufbruch Richtung Europa. „Wir erleben zurzeit an den Außengrenzen der EU zur Türkei, auf Land und zur See, eine sehr beunruhigende Situation. Wir erleben Flüchtlinge und Migranten, denen von türkischer Seite gesagt wird, der Weg in die EU sei nun offen, und das ist er natürlich nicht“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Auf die Frage, ob der Satz der Kanzlerin weiter gelte, dass sich 2015 nicht wiederholen werde, sagte er: „Der hat seine Gültigkeit.“ Ausdrücklich sprach er von „Flüchtlingen und Migranten“ – nicht jeder werde nach der gültigen Definition Flüchtling sein.
Die europäische Krisendiplomatie lief auf Hochtouren. Vor dem Hintergrund der angespannten Lage an der EU-Außengrenze warnte Außenminister Heiko Maas (SPD) davor, Flüchtlinge zu instrumentalisieren. „Wir dürfen nicht zulassen, dass Flüchtlinge zum Spielball geopolitischer Interessen gemacht werden. Egal wer das versucht, der muss immer mit unserem Widerstand rechnen“, sagte Maas in Berlin.
Grünen-Chefin Annalena Baerbock forderte, dass Deutschland in einem ersten Schritt 5000 besonders schutzbedürftige Menschen aus Flüchtlingslagern auf griechischen Inseln aufnimmt. Dazu liege im Bundestag ein Antrag der Grünen vor, der schnell beschlossen werden könne, sagte Baerbock gestern in Berlin.
Dagegen warnt der CDU-Vorsitzkandidat Friedrich Merz vor einer Situation wie 2015. Es müsse ein Signal an die Flüchtlinge geben, dass es „keinen Sinn hat, nach Deutschland zu kommen“, sagte Merz gestern dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR). „Wir können Euch hier nicht aufnehmen.“ In Deutschland seien sich alle Beteiligten einig, so etwas wie 2015/2016 dürfe sich nicht wiederholen, fügte Merz hinzu. Über die derzeit an der türkisch-griechischen Grenze ankommenden Flüchtlinge sagte Merz, dies sei „eine große humanitäre Katastrophe, was da gegenwärtig auf den griechischen Inseln stattfindet und auch zwischen Griechenland und der Türkei“. Deutschland „sollte helfen und vielleicht auch mehr helfen“ als bisher.
Die AfD will, dass Deutschland wegen der Migranten und Flüchtlinge die nationalen Grenzen dicht macht. „Griechenland und Bulgarien müssen von uns volle finanzielle und logistische Unterstützung für den erforderlichen robusten Außengrenzenschutz erhalten“, so Parteichef Jörg Meuthen.
Heute wollen sich die Spitzen der EU ein eigenes Bild vom Geschehen machen. Der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis teilte mit, er werde EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Ratschef Charles Michel und EU-Parlamentspräsident David Sassoli an der griechischen Landgrenze zur Türkei treffen.