Athen/Istanbul/Brüssel – Recep Tayyip Erdogan liebt Provokationen; die jüngste schickte er am Sonntag Richtung Athen. „Hey Griechenland“, sagte er bei einem Auftritt in Istanbul, „diese Menschen kommen nicht zu dir und bleiben. Sie kommen zu dir und gehen in andere Länder Europas. Warum störst du dich daran?“ Es war der wenig subtile Appell, tausende Migranten im griechisch-türkischen Grenzgebiet weiter in die EU ziehen zu lassen. „Mach du doch auch die Tore auf“, schickte er hinterher. Dass die Griechen andere Pläne haben, sickerte am Abend durch. Wie aus Regierungskreisen verlautete, will Athen seinen Grenzzaun zur Türkei an drei Abschnitten um 36 Kilometer verlängern. Der bestehende Zaun soll verstärkt werden.
Um die Spannungen mit der EU vielleicht doch diplomatisch zu lösen, reist Erdogan heute nach Brüssel. Um 18 Uhr trifft er dort EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und EU-Ratschef Charles Michel, die beide versuchen dürften, die Türkei zur Einhaltung des 2016 geschlossenen EU-Türkei-Abkommens zu bewegen. Erdogan wird wohl auf neue finanzielle Hilfen dringen.
Das Verhältnis beider Seiten ist äußerst angespannt. Die EU wirft Erdogan vor, gegen das Flüchtlingsabkommen zu verstoßen und die Staatengemeinschaft erpressen zu wollen. Zugleich signalisierten mehrere EU-Staaten weitere Hilfsbereitschaft, vorausgesetzt, die Türkei kehre zum Abkommen zurück. Das verpflichtet die Türkei, gegen illegale Migration vorzugehen. Brüssel hat Ankara dafür 6 Milliarden Euro zugesagt.
Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis bezeichnete den Pakt im Sender CNN indes als „tot“. Er wird heute zu einer deutsch-griechischen Konferenz mit Kanzlerin Angela Merkel in Berlin erwartet. Auch der Koalitionsgipfel in Berlin befasste sich gestern mit der Lage an der griechisch-türkischen Grenze. Ergebnisse lagen bis zum späten Abend zwar noch nicht vor. Zuvor hieß es aber, der Schutz der EU-Außengrenzen sei „Priorität Nummer eins“.
Die Situation an der Grenze war am Wochenende extrem angespannt. Immer wieder kam es Berichten zufolge zu Attacken von türkischer Seite aus. Migranten kampierten in einem Waldstück auf türkischer Seite, ihre Zelte waren von Tränengasschwaden eingenebelt. Für Aufregung sorgten Bilder einer Wärmebildkamera der griechischen Polizei. In der Nacht zum Samstag wurde damit ein gepanzertes Fahrzeug beim Versuch gefilmt, den Grenzzaun einzureißen, um den Flüchtlingen auf türkischer Seite den Weg nach Europa freizumachen. Das Video, das dem griechischen TV-Sender Skai zugespielt wurden, zeigen ein türkisches Grenzüberwachungsfahrzeug.
In Griechenland leben derzeit laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk 116 000 Flüchtlinge und Migranten, gut 42 000 von ihnen in und um die überfüllten Lager auf den Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos in der östlichen Ägäis. Auf Lesbos mobilisieren sich zunehmend Einwohner gegen Flüchtlinge und Hilfsorganisationen. Am Samstag zerstörte ein Brand dort einen Großteil der Gebäude der Schweizer Hilfsorganisation „One Happy Family“. Auch die Schule für Flüchtlingskinder brannte ab.
SPD-Chef Norbert Walter-Borjans mahnte rasche Unterstützung für Kinder in den überfüllten Lagern an. Etwa 1000 unbegleitete Minderjährige müssten schnell herausgeholt werden. Neben Luxemburg, Frankreich und Finnland hat sich gestern auch Kroatien zur Aufnahme Minderjähriger bereit erklärt.