München – Ulrich Maly ist seit 2002 Oberbürgermeister von Nürnberg und war Präsident des Deutschen Städtetags. Jetzt hört der beliebte SPD-Politiker mit 59 Jahren auf. Ganz freiwillig. Ein Gespräch.
Herr Maly, Corona versetzt alle Städte in Ausnahmezustand. Die letzten Tage im Amt haben Sie sich wohl anders vorgestellt?
Ja, man hat ja so Vorstellungen, dass man es auslaufen lässt, weil die anderen Zug um Zug die Arbeit übernehmen. Aber so ist das in diesem Amt: Man muss die Dinge nehmen, wie sie kommen. Übrigens würde ich es nicht Ausnahmezustand nennen.
Sondern?
Ich würde sagen: Es ist eine ungewöhnliche Situation, vor allem wegen der Absagen von Kultur- und Sportveranstaltungen. Auch die Frühlingsfeste sind alle gefährdet.
Mit Blick auf Italien: Wie weit werden die Einschränkungen gehen?
Das kann im Moment niemand sagen. Der erste Schritt der Epidemie-Bekämpfung ist das Containment, bei der man versucht, jede einzelne Infektionskette zu identifizieren. Noch können wir bei fast jedem nachvollziehen, wie und wo er sich infiziert hat – bei uns die allermeisten in Italien. Alle Kontaktpersonen befinden sich in Quarantäne. Wenn die Zahl wie in Italien so angestiegen ist, dass das Zurückverfolgen nicht mehr funktioniert, kommt die zweite Stufe der Protektion, wo man besonders anfällige Gruppen schützt.
Deutschland praktiziert gerade beides.
Ja. Das ist eine Frage der Solidarität. Wenn der Enkel auf ein Konzert geht, gefährdet das seine Oma, wenn er sie am nächsten Sonntag besucht. Deshalb sagen wir die Konzerte ab.
Als OB muss man da viele unpopuläre Entscheidungen treffen. Wie läuft unter solchen Umständen eine Amtsübergabe?
Das weiß ich noch nicht. Sie ist Gott sei Dank erst Anfang Mai. Dann werden vor allem soziale und wirtschaftliche Härten vor Ort zu klären sein. Kleine Konzertveranstalter, Hotellerie, Gastronomie. Da müssen wir auch über Hilfen reden. Derzeit steht die Gesundheit im Vordergrund.
Für jeden unerfahrenen neuen Bürgermeister wird das ein Start unter extremen Bedingungen.
Ein Heißstart. Es wird ein paar Wochen Power-Learning geben, wie dieses Amt läuft. Nämlich unter anderem, dass man nicht glaubt, alles besser zu wissen. Ich bin nämlich auch kein Epidemiologe (lacht), sondern referiere Ihnen hier nur, was ich gelernt habe. Politische Verantwortung heißt immer auch, auf Experten zu hören.
Am Sonntag ist Kommunalwahl, über die jetzt kaum noch jemand spricht. Findet der Wahlkampf noch unter realen Bedingungen statt?
Natürlich sind es keine ganz realen Bedingungen. Aber das Format der großen Abschlussveranstaltungen gibt es ja nicht mehr. Das meiste läuft an Haustüren, an Infoständen und in den sozialen Netzwerken.
Bekommt nicht die Wahl selbst eine Schieflage, wenn sich viele Ältere nicht mehr aus dem Haus trauen?
Ich versuche seit einer Woche, den Wählern die Angst zu nehmen. Man kann die Stimmabgabe im Wahllokal komplett ohne Körperkontakt vornehmen. Das ist nicht gefährlicher als Einkaufen.
Zuletzt war viel von Bedrohungen gegen Kommunalpolitiker die Rede. Haben Sie selbst Erfahrungen damit gemacht?
Ja klar. Wie jeder. Ich hab das nur nie publik gemacht.
Mitunter ist es schwierig, überhaupt noch Menschen zu finden, die sich vor Ort – und meist ehrenamtlich – für Ämter bewerben.
Na ja, in Nürnberg haben wir zwölf Bewerber für das OB-Amt (lacht). Aber im Ernst: Im ländlichen Raum ist das schon ein Problem. Ich finde es sehr gut, dass jetzt eine Debatte darüber entsteht und der Bundespräsident Hassreden zu seinem Thema macht. Gut ist auch eine eigene Staatsanwaltschaft zu diesem Thema. Denn vieles, was wir zur Anzeige gebracht haben, wurde einfach eingestellt. Das war frustrierend.
Gibt es Stellschrauben, an denen man drehen könnte, um kommunale Ämter attraktiver zu machen? Mehr Geld?
Da wäre ich sehr vorsichtig. Mit solchen Ämtern wird man nicht reich, schön und glücklich – sie kosten Zeit und bringen Einschränkungen in der Familie. Der Reiz des Amtes ist ein anderer. Auch wenn im Bayerischen Fernsehen Bürgermeisterfiguren in Serien immer entweder blöd oder korrupt sind, handeln sie in der Realität meist sehr idealistisch. Sie wollen gestalten. Eine sehr schöne Aufgabe, die auch viel Erfüllung bringt.
Sie selbst haben mit Ihrer Rückzugsankündigung überrascht. Schon bereut?
Nein. Für mich steht das seit 2014 fest. Ich wollte zeigen, dass man an diesem Amt nicht klebt wie an einem Fliegenfänger. Auch Oberbürgermeister nutzen sich ab. Tränen wird es geben, wenn ich mich hier von den Kollegen verabschiede, die ich in den letzten 18 Jahren mehr gesehen habe als meine Frau.
Sie sind erst 59 Jahre alt. Was machen Sie jetzt?
Ich versuche, aus der Tretmühle runterzukommen. Meine Frau und ich machen eine Kur. Es wird langweilige Urlaube geben, in denen viel gelesen wird.
Keine Angst vor dem Bedeutungsverlust?
Den Bedeutungsverlust werde ich verkraften. Glaube ich und hoffe ich. Vermissen werde ich eher die Annehmlichkeiten des Alltags. Künftig muss ich den Termin für die Prophylaxe beim Zahnarzt selbst ausmachen. Und ich muss ohne Fahrer wieder lernen, wie man einparkt.
Interview: Mike Schier