München – Um die drastischen Maßnahmen gegen die ungebremste Ausbreitung des Coronavirus zu verstehen, hilft eine alte Legende. Demnach durfte sich der mutmaßliche Erfinder des Strategiespiels Schach von seinem Herrscher einen Lohn wünschen. Er ließ die 64 Felder des Bretts mit Reiskörnern belegen. Auf das erste Feld sollte ein Korn kommen, dann jeweils doppelt so viele auf das nächste. Das Ergebnis dürfte der Herrscher des Reichs damals unterschätzt haben: Auf dem letzten Feld hätten mehr als 18 Trillionen Reiskörner platziert werden müssen. Bei der Coronavirus-Epidemie fürchten Experten, dass die Zahl der Infektionen ähnlich rasant steigen könnte.
Deshalb sei es wichtig, den Anstieg mit Einschränkungen wie dem Verbot von Großveranstaltungen, dem Ausschluss von Fans aus den Fußballstadien und der Schließung von Schulen zu drosseln. Es gehe „um das Gewinnen von Zeit“, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Es sei ein häufiges Muster bei Epidemien, dass die Fallzahlen exponentiell zunehmen, erklärt Gérard Krause, der Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung. Diese Form von Wachstum sei „einfach nur Ausdruck dessen, dass ein Mensch mehrere weitere Menschen anstecken kann, die dann ebenfalls jeweils nochmal mehrere Menschen anstecken können“.
Für eine Beispielrechnung nimmt der Berner Epidemiologe Julien Riou an, dass ein Coronavirus-Infizierter im Durchschnitt zwei weitere Menschen ansteckt. Bei einem exponentiellen Wachstum würde sich deren Zahl mit jeder Ansteckungsrunde stets verdoppeln. So könnten aus 500 Fällen nach elf Verdopplungen mehr als eine Million Fälle werden. Dieses Tempo soll gebremst werden, indem neue Ansteckungen so gut wie möglich unterbunden werden. Viele Wissenschaftler gehen derzeit beim Coronavirus Sars-CoV-2 davon aus, dass ein Infizierter im Durchschnitt sogar in etwa drei Menschen ansteckt.
Gerät die Zahl der Ansteckungen außer Kontrolle, könnte auch das deutsche Gesundheitssystem ins Wanken geraten. Für die meisten Infizierten verläuft die Krankheit weitgehend harmlos. Doch etwa 20 Prozent erkranken schwerer. Dennoch ist die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) optimistisch: „Wir sind früh dran, wir haben von den anderen Ländern wie Italien gelernt“, sagt DKG-Präsident Gerald Gaß. Bislang sei es gelungen, die infizierten Menschen genauer zu erfassen als dies in anderen Ländern der Fall sei. Deshalb seien anders als in Italien auch erst wenige Menschen gestorben.
In deutschen Krankenhäusern stehen eine halbe Million Betten, etwa jedes vierte ist im Jahresdurchschnitt nicht belegt. „Wenn wir nun davon ausgehen, dass sich jeder zweite Mensch in Deutschland irgendwann mit dem Virus infiziert, ist es wichtig, ihre Zahl so gut wie möglich zu strecken“, sagt Gaß. Es geht um die Versorgung. MARTIN OVERSOHL