Berlin/München – Diese Corona-Krise schreibt Geschichten, die so seltsam sind, dass man sich die Augen reiben mag. Am späten Sonntagnachmittag steht die Kanzlerin noch vor der Presse und appelliert möglichst viel Abstand zueinander zu halten. Nur ein halber Meter oder eben 1,5 Meter, das mache einen riesigen Unterschied, sagt sie: „Bitte ziehen Sie alle mit“, sagt Angela Merkel. „Zeigen Sie Vernunft und Herz.“ Man müsse nun eben „Verzicht und Opfer“ leisten. „Jeder soll seine Bewegungen und sein Leben für die nächsten Wochen nach diesen klaren Vorgaben organisieren.“
Dann verlässt sie die Bühne. Kaum außerhalb des Blickfelds, erhält sie eine heikle Nachricht: Sie muss umgehend in Quarantäne.
Gegen 19 Uhr bestätigt das Bundespresseamt: Die Kanzlerin sei unterrichtet worden, dass ihr Impfarzt positiv auf das Coronavirus getestet worden sei. Der Mediziner hatte sie am Freitag gegen Pneumokokken geimpft. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie sich dabei angesteckt haben könnte. Die Folge: Auch (oder: gerade) eine Kanzlerin muss dann in Quarantäne.
Sie werde ihren Dienstgeschäften von zuhause aus weiter nachgehen, sagte ihr Sprecher. Merkel selbst hatte wenige Minuten vorher, noch in Unkenntnis ihrer Lage, von ihrem Alltag erzählt: Weniger Reisen, kaum Besuche, EU-Gipfel nur noch virtuell und digital. „Auch mein Leben hat sich also grundsätzlich verändert und besteht im Wesentlichen aus Telefon- und Videokonferenzen.“ All das ist problemlos auch aus der Berliner Privatwohnung machbar, vermutlich rund zwei Wochen lang. An der Kabinettssitzung zu den Corona-Notpaketen heute Vormittag kann die Chefin allerdings nicht persönlich teilnehmen. Das Gespräch mit dem kosovarischen Ministerpräsidenten um 14 Uhr kann sie führen, es war eh als Videoschaltung geplant.
Ob Merkel wirklich infiziert ist, ist völlig offen. Tests sind in diesem Fall erst nach mehreren Tagen verlässlich. Vor ihr waren bereits Innenminister Horst Seehofer und Vizekanzler Olaf Scholz getestet worden, beide negativ.
Die 65-Jährige ist nicht die einzige Regierungschefin, die aus der Isolation heraus ein Land führen soll. Auch Kanadas Premierminister Justin Trudeau muss daheim bleiben. Bei ihm war es die Ehefrau, die positiv getestet wurde. Trudeau tritt nun alle paar Tage vor sein Backsteinhaus und gibt Journalisten (in gebührendem Sicherheitsabstand) einen Zwischenstand der Regierungsgeschäfte. Das Kabinett tagt telefonisch, auch US-Präsident Donald Trump und europäische Staatschefs sind per Telefon greifbar. Die Familie (drei Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren) beschäftigt sich so gut es geht: „Fast den ganzen Morgen haben die Kinder mit Lego gespielt und meine Frau hat mit Freunden und Familie telefoniert.“
Auch Spanien hat erfahrung mit Regierenden in Quarantäne: Eine Ministerin hatte sich infiziert; ihr Lebenspartner, der mehr oder weniger zufällig Vize-Regierungschef ist, musste deshalb auch in Isolation. In Italien hat es Nicola Zingaretti, den Parteichef der Regierungspartei PD getroffen. In London ist die britische Gesundheits-Staatssekretärin Nadine Dorries mit einer bestätigten Infektion isoliert. Auch im Bundestag haben diese Erfahrung schon mehrere Politiker gemacht. Friedrich Merz (CDU) hat erhebliche Symptome; bei mehreren FDP-Abgeordneten verlief es milder. Auch der frühere Grünen-Chef Cem Özdemir hat Corona.
Merkel erfährt für ihren Schritt parteiübergreifend Sympathie, am Abend gingen viele Besserungswünsche ein. Ein Nachspiel könnte indes der Tweet des bayerischen AfD-Abgeordneten Andreas Winhart haben. Er schrieb am Abend, Merkel in Quarantäne sei „gut, hinter Gitter wäre besser“. cd