Ischgl/München – Er versucht es, doch er wird es nicht schaffen. Der Rucksack wird ihn verraten. Der Skifahrer gleitet aus dem Sessellift, der ihn von Samnaun aufs Idjoch und auf über 2800 Meter hochgetragen hat, er setzt die Stöcke ein, um zu beschleunigen und auf die Abfahrt Richtung Ischgl zu kommen, doch es klappert schwer auf seinem Rücken: Flasche an Flasche. Da stellt sich ihm ein Mann in den Weg: „Zollkontrolle. Darf ich in Ihren Rucksack schauen, was Sie da gerade einführen?“ Spirituosen, Zigaretten, es kommt nun auf die Menge an, ob sie über der erlaubten ist. Der kleine Schmuggel – Alltag und fast schon Folklore in der Silvretta Arena, dem gemeinsamen Skigebiet der Bergdörfer Ischgl (Österreich) und Samnaun (Schweiz). Wer dort Ski fährt, hat eine solche Szene garantiert schon miterlebt.
Geschmuggelt wurde immer schon, eine der Abfahrten nach Samnaun hinunter durch tiefe Bergschluchten, wird sogar als „Schmugglerroute“ ausgewiesen. Interessant ist der Abstecher nach Samnaun, wenn jemand eine Luxusuhr kaufen will. Rolex-Klasse. Gibt es in Samnaun günstig, weil das ein zollfreier Bezirk ist. Die Einfuhr nach Ischgl müsste man anmelden. Tut nur keiner, sondern wirft die Verpackung gleich weg und versteckt die Quittung in der Unterhose. Uhr ans Handgelenk. Bei Kontrolle: Habe ich schon lange, ist meine normale Uhr.
In Ischgl wird ein scheinheiliges Spiel zwischen Versuchung und Gesetz betrieben, auch dafür ist es bekannt. Aber mehr noch dafür, die Party-Hochburg der Alpen zu sein. Und jetzt aktuell, die Virenschleuder Europas. Hunderte von Norwegern und Isländern haben das Coronavirus von einem Aufenthalt im Paznauntal in Tirol mitgebracht, auch zahllose Deutsche. Von einem 36-jährigen Barkeeper im „Kitzloch“, der trotz Infektion arbeitete. Von Skilehrern in der Nachbargemeinde Kappl. Und Tirol reagierte viel zu spät, wollte den Hotels die besten Wochen der Saison nicht kaputtmachen.
Unter Skifahrern kursiert der Spruch, dass es keinen gebe, der nicht schon krank aus Ischgl heimgekehrt wäre. Die Infektion als Kollateralschaden von Spaß. Trotzdem zieht es die Menschen hin. Warum?
Zunächst, weil Ischgl eines der besten Skigebiete der Welt ist. Offiziell 238 Kilometer Piste, das Netz der Strecken ist perfekt durchdacht. Die Lifte sind schnell, manche beheizt, man steht nicht Schlange. Für sportliche Skifahrer. Und nirgendwo ist die Saison länger, Schluss normal am 1. Mai. Mit einem Konzert auf der Idalp, 2300 Meter, dem Knotenpunkt der Ski-Autobahnen. 2020 wäre Eros Ramazzotti gekommen und hätte vor 25 000 Leuten gespielt. Und es waren schon ganz andere Kaliber da beim „Top of the Mountain“: Elton John, die Beach Boys, Bon Jovi, Rod Stewart, Diana Ross, Rihanna, Pink, Deep Purple, Robbie Williams, Tina Turner. Sogar Bob Dylan, der sein Publikum ignoriert, hat sich kaufen lassen. In Ischgl fehlt es nicht an Geld.
Die wenigen Bauernfamilien, die sich das Dorf auf knapp 1400 Meter Höhe teilten, bauten ab den 60er-Jahren ein Skigebiet auf, es entstand eine Hotelstadt, die heute 10 500 Gästebetten bietet. Durch den Ort zieht sich ein Tunnelsystem mit Rollbändern.
Ischgl bedeutet auch Enge und unvermeidbare Nähe. Drei Gondelbahnen schaffen die Massen nach oben. Silvretta-, Fimba- und Pardatschbahn, bis zu zwanzig Fahrgäste auf wenig Raum. Im Skigebiet gibt es nicht viele kleine Hütten, auf die sich der Strom an Skifahrern verteilen könnte, sondern wenige kantinenartige Großbetriebe. Hygiene – öfter grenzwertig. Und: Das Aprés-Ski unten im Ort. In den Spitzenwochen, meist im Frühjahr, tanzen im „Schatzi“ vor dem teuren Hotel Elizabeth die GoGoGirls auf der Theke, und im „Kitzloch“, das nun noch berühmter ist als der „Kuhstall“ nebenan, wird ab 16 Uhr gebechert, gefeiert, gesungen.
Es ist Ischgls Tragik, dass es darum kämpft, von diesem Image wegzukommen. Man hat neue Gästeschichten erschlossen, die gehobene russische Mittelschicht etwa, die nicht aufs Geld schaut und im Ort Ausrüstung und Klamotten zum Skifahren kauft. Ischgl ist international geworden, auch Skandinavier und Niederländer haben es entdeckt. Die reinen Sauf-Touristen bräuchte Ischgl gar nicht. Doch die Geister, die Ischgl rief, haben das Bild des Dorfs geprägt. Es gab schon manche Ischgl-Reportage im Fernsehen, kaum eine war schmeichelhaft. In einer die Szene, in der zwei junge Snowboarder versuchen, nach Liftschluss noch in die Silvretta-Bahn zu huschen. Ein Bediensteter weist sie resolut zurück: „Der Berg ischt geschlossen.“
Ja, das ist er jetzt. Lange wie nie.