Ischgl/München – Der Irrsinn von Ischgl zeigt sich am Anschaulichsten in diesem Interview. „Die Behörden haben alles sehr richtig gemacht“, sagt der Tiroler Gesundheits-Landesrat Bernhard Tilg im ORF beharrlich ein ums andere Mal. „Richtig agiert“, „Gesamtvorgehen richtig“. Gut 12 Minuten geht das so, ein in sich ruhender Minister. Das Interview wird wohl in vielen Jahren noch als Lehrbeispiel dafür gezeigt, wie Realität und Gespräch auseinanderklaffen können.
Dass die Behörden irgendwas richtig und rechtzeitig gemacht haben könnten, ist heute, zwei Wochen nach dem Interview, eher irreal. Tilg muss es damals schon besser gewusst haben. Eine Kette von Nicht- und Fehlentscheidungen hat rund um Ischgl für eine dramatisch schnellere Corona-Ausbreitung in ganz Europa gesorgt.
Wie man heute weiß, begann das Unheil spätestens Ende Februar. In mehreren Staaten Nordeuropas landen Maschinen mit heimkehrenden Skiurlaubern aus Ischgl. Auffallend viele werden krank, Fieber. In Island werden aus einer Reisegruppe 15 Corona-Infektionen gemeldet, später in Irland, in Norwegen. Es ist eine Phase, als in Europa noch wenige Erkrankungen bekannt sind, jede Infektion wird nachverfolgt. Am 4. März, spätabends, sendet Islands Chef-Epidemiologe eine Alarm-Meldung an Österreichs Behörden, sein Land erklärt Ischgl zum Hochrisikogebiet. Tags darauf liefert Island den Tiroler Behörden die Daten, in welchen Hotels die Infizierten wohnten. Die örtlichen Behörden wiegeln ab: Die Isländer müssten sich im Flugzeug angesteckt haben. Am Samstag, 7. März, ist Bettenwechsel in Ischgl, tausende Urlauber reisen an und ab. Am 8. März schlägt Norwegen Alarm: Von 1200 Infektionen im Land seien 500 auf Österreich zurückzuführen, meist in und um Ischgl.
Am gleichen Tag wird bekannt, dass ein Barkeeper in Ischgl positiv getestet wurde. Erneut reagieren die Behörden gelassen: Eine Übertragung an Gäste sei „eher unwahrscheinlich“. Tags darauf wird gemeldet, der Mann in der beliebten Après-Ski-Bar habe „mindestens 15“ Personen angesteckt – keine Reaktion der Behörden. Dänemark setzt Ischgl auf die Rote Liste, eine Ebene mit Wuhan – der Betrieb läuft weiter.
Hinter den Kulissen setzt aber Nervosität ein. Der Sprecher der Seilbahnbetreiber, der ÖVP-Nationalratsabgeordnete Franz Hörl, sendet dem Chef des infizierten Barkeepers mehrere SMS, er solle eilig zusperren: „Das ganze Land schaut auf Euer Lokal – wenn eine Kamera den betrieb sieht stehen wir Tiroler da wie ein Hottentotten Staat.“ So zitieren mehrere Medien daraus. Dazu den Hinweis: „Nach einer Woche ist viel Gras über die Sache gewachsen.“ Die Touristiker wollen nämlich kein Ende der Skisaison, sie bangen laut „Spiegel“ um 111 Millionen Euro Umsatz fürs Tal und 380 000 wegfallende Übernachtungen. Als der Brenner-Grenzübergang schon gesperrt ist, hat die Bar in Ischgl noch offen. Erst am 13. März verfügt Bundeskanzler Sebastian Kurz, dass die Saison endet, dass Ischgl unter Quarantäne gestellt wird.
Doch statt zu bleiben, suchen zehntausende Urlauber, zahllose schon infiziert, eilig das Weite – teils in überfüllten Bussen oder dicht an dicht im Flugzeug. Der Liftbetrieb läuft noch bis 15. März, aber sie wollen rauskommen. Österreich verlangt zwar eine Durchreise an den Heimatort, doch viele machen noch einen Zwischenstopp in Innsbruck oder München, ehe sie das Virus in etliche Länder Europas und nach Nordamerika tragen. Eine Analyse von Mobilfunkdaten zeigt laut „Welt“: Die meisten Ischgl-Urlauber reisen nach Berlin, Hamburg, Köln, Frankfurt und Bayern, nach London, Barcelona und ganz Skandinavien. Kurz darauf gibt Landesrat Tilg sein Interview.
„Die Gier hat die Verantwortung für die Gesundheit besiegt“, schrieb der „Standard“ als erster. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft. 400 Touristen planen eine Sammelklage gegen die Behörden. C. DEUTSCHLÄNDER