Das Rätsel um die Totenzahlen

von Redaktion

Wie tödlich ist Covid-19? Die Sterbetafeln aus den europäischen Ländern liefern klare Hinweise

München – Wie tödlich ist das Coronavirus? Nur eine milde Grippe – oder doch eine Pandemie dramatischen Ausmaßes? Nach den ersten Wochen im Ausnahmezustand verbreiten sich Theorien, die von dem Virus ausgehende Gefahr werde überschätzt, und viele der mit dem Coronavirus Gestorbenen hätten aufgrund ihrer Vorerkrankungen und ihres Alters auch so binnen kurzer Zeit ihr Leben gelassen. Ein genauerer Blick auf die Todeszahlen weltweit lohnt deshalb.

Argumentiert wird oft mit dem besonders schweren Verlauf der Grippesaison 2017/18, die nach Angaben des Robert-Koch-Instituts rund 25 000 Bundesbürger das Leben kostete. Diese Zahl geht jedoch ausschließlich auf Schätzungen zurück. Gemeldet wurden dem RKI lediglich 1674 in einem Labor bestätigte Influenza-Todesfälle. Grundlage für die Schätzung ist die „Übersterblichkeit“, die sogenannte „Exzessmortalität“. Sterben im untersuchten Zeitraum – verglichen mit den übrigen Monaten des Jahres – überdurchschnittlich viele Menschen, wird diese Differenz der Grippe zugeschrieben.

Die Influenza-Sterblichkeitsrate liegt bei circa 0,1 Prozent. Für das Coronavirus lassen sich derzeit noch keine verlässlichen Werte ermitteln. Zu sehr schwanken die Zahlen einzelner Staaten, über die Dunkelziffer der Erkrankten können nur Vermutungen angestellt werden. Der Virologe Christian Drosten schätzt die Letalität auf 0,3 bis 0,7 Prozent. Damit wäre die Sterberate höher als bei einer Grippe, aber deutlich niedriger als bei der Sars-Epidemie (10 bis 15 Prozent).

Statistisch belegbar ist, dass derzeit weltweit signifikant mehr Menschen sterben als üblich. In den meisten EU-Staaten, insbesondere Italien, Frankreich, Schweden, Spanien und Großbritannien, lässt sich für die erste volle Aprilwoche eine hohe sogenannte „Exzessmortalität“ beobachten, also eine über die statistischen Vergleichswerte der Vorjahre hinausgehende Sterblichkeit. Aktuell sterben dort mindestens sieben Prozent mehr Menschen als in den vergangenen Jahren. Aus England und Wales wurden für die Woche bis zum 3. April sogar 59 Prozent mehr Tote als im Fünf-Jahres-Durchschnitt gemeldet. Die Behörden registrierten 6082 zusätzlich Verstorbene; Covid-19 wurde für 3801 Sterbefälle verantwortlich gemacht.

Besonders hoch sind die Sterberaten dort, wo sich das Virus innerhalb kurzer Zeit rasant ausbreiten konnte. Das RKI verweist auf seiner Homepage auf eine Studie, die in der chinesischen Provinz Wuhan, dem Ursprungsort der Pandemie, eine Letalität von fünf Prozent ausgemacht hat.

Vor allem auf regionaler Ebene lassen sich Auffälligkeiten nachweisen. In der norditalienischen Kleinstadt Nembro (11 500 Einwohner), gelegen in der besonders betroffenen Provinz Bergamo, wurden vom „Centro Medico Santagostino“ die Todeszahlen zwischen dem 1. Januar und dem 19. März untersucht. Offiziell gab es in diesem Zeitraum 31 Tote, bei denen die Lungenerkrankung Covid-19 diagnostiziert wurde. Im statistischen Durchschnitt sterben in diesem Zeitraum in Nembro jährlich 35 Menschen – in diesem Jahr verzeichneten die Behörden aber 158 Todesfälle.

Die 123 zusätzlichen Opfer sind allerdings nicht unbedingt am Coronavirus gestorben, ein möglicher Grund kann auch die Überlastung von Italiens Gesundheitssystems sein. In der gesamten Provinz starben im März insgesamt 5400 Einwohner, wie aus einer Untersuchung der Zeitung „L’Eco di Bergamo“ hervorgeht. Offiziell erlagen 2060 davon dem Coronavirus. Im selben Monat des Vorjahres starben dort nur 900 Menschen. 4500 Tote werden von der italienischen Zeitung deshalb mit Sars-CoV-2 in Verbindung gebracht. Die Zahlen zeigen: Corona bleibt eine Gefahr – auch wenn diese Gefahr nicht nur von dem Virus selbst ausgeht, sondern vor allem von fehlenden oder durch Infizierte belegte Kapazitäten in der Gesundheitsversorgung. JULIAN NETT

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