Warnung vor der zweiten Welle

von Redaktion

Die Freude über die abschwellende Corona-Welle war kurz: Zwar ist die Zahl der Neuerkrankungen erneut gesunken – doch weit weniger stark als vergangene Woche. Nicht nur beim Robert Koch-Institut (RKI) warnt man jetzt vor einer zweiten Welle.

VON ANDREA EPPNER

Berlin/München – „Es ist kein Ende der Epidemie in Sicht.“ Was Prof. Lars Schaade, Vizepräsident des RKI, gestern bei einem Presse-Update des Instituts verkündete, war ernüchternd. Ein Dämpfer für alle, die auf eine rasche Rückkehr zu einem normalen Alltag gehofft hatten. Der sei in weiter Ferne. Nehme man vorschnell sämtliche Kontaktbeschränkungen zurück, bestehe sogar die Gefahr „einer zweiten Welle“.

Er ist nicht der einzige Mahner. Die Epidemietätigkeit könne „in nicht erwarteter Wucht wieder losgehen“, warnte bereits vergangene Woche Prof. Christian Drosten, Chefvirologe der Berliner Charité, im NDR-Podcast. Er fürchtet nämlich, das Virus könne sich unterschwellig verbreiten und verteilen. Eine zweite Welle würde sich dann nicht mehr auf wenige Regionen beschränken, sondern in ganz Deutschland losbrechen. Und: Dazu könnte es kommen, wenn die sogenannte Reproduktionszahl nach einer Lockerung der Maßnahmen „wieder über eins kommen sollte“.

Diese Reproduktionszahl oder -rate, kurz R, gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt. Liegt der Wert über eins, breitet sich das Virus aus. Sinkt er unter eins, bedeutet das sinkende Fallzahlen – das Virus findet weniger Opfer, die Welle schwillt ab.

Groß war darum die Euphorie, als RKI-Chef Lars Wieler vergangenen Donnerstag bekannt gab, R sei auf 0,7 gefallen: Sofort wurden die Rufe nach Lockerungen der vielen Maßnahmen noch lauter. Das Problem: R verändert sich ständig. Der Wert hängt von vielen Faktoren ab, etwa von Maßnahmen zur Eindämmung. Lockert man diese, ist mit einem Ansteigen zu rechnen – mit einigen Tagen Verzögerung. Die R-Zahl ist also eine Art Trendbarometer der Epidemiologen, ähnlich wie der Konsumklimaindex in der Wirtschaft.

Am Montag ist die R-Zahl bereits wieder leicht gestiegen – auf 0,9. Geschätzt wird dieser Wert übrigens, indem man die Zahl der neuen Fälle durch die Zahl der Neuerkrankungen vor vier Tagen teilt. Das entspricht der durchschnittlichen „Generationszeit“, also dem Zeitraum, der im Schnitt vergeht, bis das Virus zum Nächsten springt und dieser für andere ansteckend wird.

Um das Virus unter Kontrolle zu bringen, müsse der Wert „deutlich unter eins“ sinken, betonte darum RKI-Chef Prof. Lars Wieler bereits vergangene Woche. Doch wie niedrig genau? Forscher des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig empfehlen, einen Wert von 0,2 bis 0,3 anzustreben. „Je weiter wir die Reproduktionszahl absenken können, desto schneller ist die Notsituation vorbei – was vielleicht sogar für strengere Maßnahmen spricht“, erklärte Prof. Michael Meyer-Hermann, Systemimmunologe am HZI. Denn mit dieser Strategie wäre die Ausbreitung nach ein bis zwei Monaten gestoppt – dann seien mehr Lockerungen denkbar. Aktuell sei es dafür zu früh.

Für Verwirrung im Netz, aber auch bei Lesern sorgte nun ein RKI-Dokument: Im „Epidemiologischen Bulletin“ ist der Verlauf der R-Zahl der vergangenen Wochen in einer Kurve dargestellt – und die sank bereits Tage vor dem „Shutdown“ am 23. März. Wäre der also nicht nötig gewesen?, fragen sich einige. Tatsächlich basiert diese Kurve nicht nur auf R-Zahlen, die nachträglich im Hinblick auf Meldeverzögerungen und andere Faktoren korrigiert wurden. Zudem wurden schon vor diesem Datum Maßnahmen ergriffen, Verhaltensänderungen bezüglich Hygiene und Abstand sowie das Verbot von Großveranstaltungen. Welchen Effekt jede Einzelmaßnahme hat, lässt sich nicht sagen. Und: Laut RKI waren „steigende Fallzahlen Anlass zur Verschärfung der Maßnahmen“.

Die müssten auf einem Level bleiben, „mit dem das Gesundheitssystem umgehen kann“, erklärte gestern auch Schaade. „Wenn wir so tun, als ob wir das Problem überwunden haben, werden wir wieder einen Ausbruch haben – das ist ziemlich sicher.“

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