München – Immer wieder sah man Armin Laschets rechte Hand am Sonntagabend in die Innentasche seines Jacketts wandern. Er holte ein gefaltetes Blatt Papier hervor, las kurz darüber und ließ es wieder verschwinden. Dem nordrhein-westfälischen Landeschef war die Anspannung anzusehen, als er in der Talkrunde bei Anne Will sein Vorpreschen hinsichtlich der Lockerungen von Corona-Maßnahmen verteidigte. Doch eine große Hilfe schien ihm der Spickzettel im DIN-A4-Format dabei nicht zu sein. Denn anstatt sich einleuchtender Argumente zu bedienen, griff der Ministerpräsident Virologen und schlecht vorbereitete Kommunen an. Dafür erntet er jetzt Kritik.
Zusätzlich zu den Schulöffnungen plädierte Laschet unter anderem für eine Ausweitung der Lockerungen auf Kindertagesstätten und Spielplätze. Mit dieser Forderung positioniert er sich offen gegen Angela Merkel – und Markus Söder. Die Bundeskanzlerin empfindet das Vorgehen der Länder nach eigenen Aussagen als „in weiten Teilen forsch, wenn nicht zu forsch“. Laschet widersprach: „Die Diskussion muss stattfinden. Das ist nicht zu forsch, es ist angemessen.“
Dass die meisten Virologen von mehr Lockerungen abraten, überzeugt den CDU-Politiker nicht. Man müsse auch soziale und wirtschaftliche Auswirkungen im Blick haben, sagte er. Ohenhin würden Gesundheitsexperten ihre Meinungen und Empfehlungen regelmäßig ändern. Es wäre nicht weiter verwunderlich, dass die Politik verwirrt sei. Laschet möchte sich nicht mehr auf die Aussagen der Virologen verlassen. Der SPD-Gesundheitsexperte und Epidemiologe Karl Lauterbach, ebenfalls Gast der Talkrunde, kritisierte den NRW-Chef: „Die Debatte erweckt den Eindruck, dass weitere Lockerungen folgen werden“, gab er zu bedenken. „Ich hätte die Schulen noch nicht geöffnet.“ Die Bildungseinrichtungen seien nämlich überhaupt nicht auf die Situation vorbereitet.
Den Vorwurf wies Laschet erst zurück („Das ist in ganz Deutschland gut gelaufen“), gestand dann aber doch noch Fehler ein. Allerdings nicht bei sich, schließlich sei es Aufgabe der Kommunen, die Schulgebäude an bestehende Hygienebestimmungen anzupassen und die Schutzausrüstung zur Verfügung zu stellen. Später am Abend räumte der 59-Jährige ein, als Ministerpräsident doch irgendwie mitverantwortlich zu sein.
Die Presse und die Twittergemeinde echauffierten sich über Laschets Auftritt. So schrieb die „Berliner Morgenpost“, Laschet würde die Schuld Städten und Gemeinden in die Schuhe schieben. Weiter heißt es: „Ein Verhalten, das Fragen aufwirft. Und sich doch nahtlos in den irrlichternden und wenig souveränen Auftritt einfügte.“
Auf Twitter wird ihm Verantwortungslosigkeit vorgeworfen. Hartnäckig hält sich die Anschuldigung, der CDU-Vize riskiere Menschenleben, um sich als Kanzlerkandidat zu profilieren. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ ging mit Laschet hart ins Gericht: „Unangemessen laut im Ton, unsensibel bei der Wahl der Worte, nicht sattelfest in den Fakten: Was Laschet Sonntagabend in der Corona-Debatte bei Anne Will zur besten Sendezeit von sich gab, war eines möglichen Kanzlerkandidaten der Union unwürdig“.
Der Berliner „Tagesspiegel“ glaubt sogar, Laschet habe sich jegliche Chancen auf eine Kandidatur zerstört: „Armin Laschet will so sehr Kanzler werden, dass er nach dieser Sendung niemals Kanzler werden wird.“ Er wollte sich als Mann für größere Aufgaben präsentieren. Stattdessen nährte er am Sonntag die Zweifel an seiner Arbeit als Ministerpräsident. JULIAN NETT