Im Mittelalter wurden unerforschte Gewässer von den Kartografen mit einer Warnung verzeichnet: Cave! Hic dragones! Auf Deutsch: Warnung! Hier Drachen!
Mit der Coronakrise befinden wir uns heute in unerforschten Gewässern und alle rufen nach dem Rat der Wissenschaft. Meine Devise: Warnung! Hier Experten! Als Wissenschaftler habe ich natürlich nichts gegen andere Mitglieder meiner Zunft. Ganz im Gegenteil. Eine dauerhafte Beseitigung des Virus als Bedrohung für die Menschheit hängt von der Wissenschaft ab. Doch bin ich skeptisch gegenüber jenen Stimmen, welche die politische Antwort auf die Corona-Krise „den Experten“ überlassen wollen, und zwar aus zwei Gründen.
Erstens haben wir es mit einem Erreger zu tun, von dem niemand allzu viel weiß. Einfache Fragen, wie zum Beispiel „Wie gefährlich ist das Virus?“ führen nicht zu Antworten, sondern weiteren Fragen. Meinen wir mit „gefährlich“ die Übertragbarkeit des Virus oder seine Letalität? Und selbst wenn wir unsere Fragen präzisieren, scheint niemand in der Lage, eine klare Aussage zu treffen. Es ist einfach zu früh. Seriöse Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können keine klare Auskunft geben, da wir derzeit einfach zu wenig über das Coronavirus wissen. Wie viele Corona erkrankte Menschen sterben am Virus? Um die scheinbar einfache Kalkulation machen zu können, müssten wir erst wissen, wer mit Corona infiziert (Nenner) und wer an Corona verstorben (Zähler) ist. Aber ohne einen weitverbreiteten Antikörpertest kennen wir den Nenner nicht. Und da wir nicht wissen, wie viele Personen tatsächlich an Corona verstarben, kennen wir den genauen Zähler nicht. Belastbare Zahlen werden kommen, aber dafür braucht die Wissenschaft Zeit. Wie tötet Corona? Intensivmediziner berichten von Lungen-, Herz- oder Nierenversagen – zum Teil auch bei jüngeren Patienten –, aber wie führt das Virus zum Organversagen? Um diese Prozesse zu verstehen, brauchen wir mehr Daten als einfach die Zahl der Toten und deren Symptome. Wie in dieser Zeitung zu lesen war, versuchen die Pathologen Sterbeprozesse durch Obduktionen aufzuklären. Ihre Arbeit wird von anderen Fachexperten – in etwa Mikrobiologen – aufgenommen und weiter ergänzt. Auch das braucht Zeit. Zweitens, selbst wenn die Wissenschaft belastbare Daten über die Übertragbarkeit und den Krankheitsverlauf von Covid-19 liefern könnte, wäre sie trotzdem nicht in der Lage, die Politik aus der Verantwortung zu nehmen. Experten wissen vieles über wenig. Aber die Probleme der modernen Gesellschaft sind vielfältig.
Die Corona-Krise ist nicht anders. Sie fordert gleichzeitig die Medizin, die Wirtschaft und die Gesellschaft heraus. Wie viele Kranke, sogar tote Menschen können wir gleichzeitig auftreten lassen und dabei die Krankenhäuser, die Volkswirtschaft und einen gesellschaftlichen Alltag aufrechterhalten?
Für die Beantwortung der Frage fürchte ich eine Diktatur der Virologen nicht weniger als eine Diktatur der Ökonomen! Glücklicherweise leben wir aber nicht in einer Diktatur. Die Demokratie ist manchmal langsam, sie ist gewiss streitbar, aber das ist genau der Punkt. Nur mit einer öffentlichen Abwägung der vielen Dimensionen dieser Krise und einer breit unterstützten Politik, welche diese berücksichtigt, werden wir es vermeiden, in den Abgrund zu steuern.
Der in München lebende US-Amerikaner Prof. James W. Davis lehrt Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen und schreibt in unserer Zeitung regelmäßig über die deutsch-amerikanischen Beziehungen.