Moskau – Mit den Kriegsorden an seinem Jackett kann der 98-jährige Nikolai Dupak den gefährlichsten Teil seines Lebens nicht vergessen. Zwei gelbe Balken für schwere Kriegswunden und einen roten für eine leichtere Verletzung im Kampf gegen die Deutschen. „Am Hals, an den Beinen und einer Hand wurde ich getroffen“, sagt der Schauspieler im Ruhestand. Der Moskauer Kriegsveteran muss an diesem Samstag wie die wenigen anderen Überlebenden auf die Militärparade zum 75. Jahrestag des Sieges über den Hitler-Faschismus am 9. Mai 1945 verzichten – wegen der Corona-Pandemie.
Auf Bitten der Veteranen hat Wladimir Putin als Oberbefehlshaber der Atommacht die sonst von Hunderttausenden in Moskau bejubelte Waffenschau abgeblasen. Dabei sollte es für ihn das wichtigste politische Ereignis des Jahres werden.
Die Bilder mit Staats- und Regierungschefs aus aller Welt sollten seine Position als Weltpolitiker stärken nach außen, aber vor allem innenpolitisch. Am Tag des Sieges präsentiert Russland immer auch nukleare Interkontinentalraketen – zur Abschreckung. Das Land hatte 2019 nach den USA, China und Indien die vierthöchsten Militärausgaben weltweit: 65,1 Milliarden US-Dollar.
Für Russland ist der Tag des Sieges ein „heiliger Tag“ – zur Erinnerung an die rund 27 Millionen Toten der Sowjetunion im „Großen Vaterländischen Krieg“, wie der Zweite Weltkrieg hier genannt wird. Vielerorts erklingen Kampflieder von damals. Der Veteran Dupak wird wie die meisten Menschen in Moskau wegen der Ausgangssperren zu Hause bleiben. Er lebt bei Tochter und Enkel – mit seinen Erinnerungen an die Sowjetunion unter ihrem Diktator Josef Stalin, der das Land mit den Alliierten Großbritannien und USA zum Sieg gegen Hitler führte.
„Allein hätten wir das nicht geschafft. Aber wenn es Stalin nicht gegeben hätte, gäbe es Russland und die anderen Länder heute nicht“, sagt er, während sein Telefon klingelt. Er hat ein Kampflied aus Kriegstagen als Klingelton.
Die letzten noch lebenden Soldaten der Roten Armee ärgern sich, dass ihre Rolle bei der Befreiung Europas von den Nazis immer weniger gewürdigt werde im Ausland. Die Russen feiern den 9. Mai, der für viele wichtiger ist als Ostern, mit Festessen und Wodka. Begangen wird das Fest einen Tag später als in Deutschland, weil bei der Kapitulation am 8. Mai 1945 in Moskau schon der neue Tag angebrochen war.
Seit Langem versucht Putin mit seiner nationalpatriotischen Politik, das Land auf Basis dieser Erinnerungskultur zu einen. Glück hat er dabei mit den Jubiläumsparaden allerdings nicht. Schon zum 70. Jahrestag lief wenig nach Plan. Nach Russlands Einverleibung der Krim und dem Beginn des Kriegs in der Ostukraine blieben westliche Staats- und Regierungschefs dem Großereignis demonstrativ fern.
Für dieses Mal gab es zwar prominente Zusagen etwa von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Aber es gab auch warnende Stimmen, nicht mit Putin zu feiern. Der Ukraine-Konflikt ist nicht beigelegt. Und auch Russlands Kampf an der Seite des syrischen Machthabers Baschar al-Assad sorgt international für Kritik.
Ganz ohne offizielle Feiern geht es am 9. Mai dann aber doch nicht. Putin, der einen Kranz am Ewigen Feuer in Moskau niederlegen will, hat trotz der Corona-Pandemie Höhepunkte angekündigt. In mehreren Städten sind Feuerwerk und Flugparaden der Luftstreitkräfte geplant. In seiner Rede dürfte er einmal mehr betonen, dass Russland unbesiegbar sei und die Parade bald nachgeholt werde. Dann marschieren tausende Soldaten und donnern Panzer über den Roten Platz.