Ein neuer Chef in heiklen Zeiten

von Redaktion

VON ANJA SEMMELROCH

Karlsruhe – Es gibt einfachere Zeiten, um an die Spitze des Verfassungsgerichts zu wechseln. In der Corona-Krise hat der Staat die Grundrechte beschnitten, wie es bis vor Kurzem unvorstellbar gewesen wäre. Und im letzten großen Urteil unter dem scheidenden Präsidenten Andreas Voßkuhle verweigerte der Zweite Senat des obersten deutschen Gerichts erstmals dem höchsten EU-Gericht die Gefolgschaft – was europaweit sehr aufmerksam verfolgt wurde. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen schloss sogar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland nicht aus.

Nun scheidet Voßkuhle nach zwölf Jahren in Karlsruhe turnusmäßig aus dem Amt. Er war damals von der SPD vorgeschlagen worden. Seine denkbar schwierige Nachfolge tritt ein Mann der Union an. „Wenn ich in ein Amt gewählt wurde, habe ich das Amt mit hohem Respekt übernommen“, hatte Stephan Harbarth kürzlich den „Stuttgarter Nachrichten“ gesagt. Wichtig sei, der neuen Aufgabe „mit Demut“ zu begegnen. Nun ist der Zeitpunkt für Respekt und Demut gekommen: Am Freitag wählte der Bundesrat den 48-Jährigen zum Präsidenten.

Harbarth hatte eineinhalb Jahre Zeit, sich vorzubereiten. Seit seiner Wahl zum Vizepräsidenten und Vorsitzenden des Ersten Senats Ende 2018 war vorgezeichnet, dass er derjenige sein würde, der Voßkuhle in Karlsruhe an der Spitze ablöst. So sind die ungeschriebenen Regeln.

Die Personalie stieß nicht nur auf Begeisterung. Denn bis zu seiner Wahl war der gebürtige Heidelberger Berufspolitiker durch und durch: mit 16 in die Junge Union eingetreten, seit 2009 für seinen Wahlkreis Rhein-Neckar im Bundestag, seit 2016 stellvertretender Chef der Unionsfraktion und Mitglied im CDU-Vorstand. Kann so einer plötzlich zum unabhängigen Verfassungsrichter werden?

In Karlsruhe hat man ihm von Anfang an den Rücken gestärkt. „Die Dosis macht das Gift“, ist einer der Sätze, die Voßkuhle gern öffentlich wiederholt. Es tue dem Gericht gut, ein, zwei Leute in seinen Reihen zu haben, die etwas von Politik verstehen und wissen, was hinter den Kulissen abläuft.

Als Bereicherung würdigt Voßkuhle immer wieder Harbarths Erfahrungsschatz als Wirtschaftsanwalt. Mit Abschlüssen in Heidelberg und Yale war Harbarth bis 2018 Partner in der Mannheimer Großkanzlei Schilling, Zutt & Anschütz – ein Job, der ihm einen Platz unter den Top 10 der Meistverdiener im Bundestag sicherte.

Tatsächlich ist Harbarth erst der fünfte ehemalige Anwalt in der Geschichte des Gerichts, unter zahlreichen vormaligen Bundesrichtern und Hochschulprofessoren. Kritiker erinnern gern daran, dass die Kanzlei mit dem Slogan „Zu uns kommen Konzerne“ VW im Dieselskandal vertreten hat. Persönlich war Harbarth mit dem Mandat aber nicht betraut. Inzwischen hat er die Sozietät verlassen. Als Verfassungsrichter darf er nur seine Honorarprofessur an der Uni Heidelberg weiter pflegen.

Intern stellt vor allem Harbarths Politiker-Vergangenheit das Gericht vor Herausforderungen. Sein Senat hat demnächst über das Kinderehen-Verbot zu entscheiden. Harbarth hat seinen sieben Kollegen angezeigt, damals „intensiv in die Vorbereitung und Verabschiedung des Gesetzes eingebunden“ gewesen zu sein. Diese haben sich dafür ausgesprochen, dass er mitentscheiden soll – schließlich habe er damals rechtspolitisch argumentiert und nichts verfassungsrechtlich bewertet. Aber nicht alle wollten diesen Drahtseilakt mitgehen. „Die Entscheidung ist mit Gegenstimmen ergangen“, steht unter dem Beschluss. Mehr nicht.

Harbarth will eine mögliche Befangenheit auch künftig zur Entscheidung stellen – „auch für Fälle, zu denen ich eine anwaltliche Berührung hatte“, sagte er vor einem Jahr. Entscheidungen des Gerichts müssten unangreifbar sein. Im ersten großen Urteil unter seinem Vorsitz kippte der Erste Senat im November die Sanktionen gegen unkooperative Hartz-IV-Empfänger einstimmig. Aus der Union gab es keinen Beifall.

Nun muss er sich mit einer Flut von Corona-Klagen beschäftigen. Vorgänger Voßkuhle hat schon den Weg vorgezeichnet. „Uns droht nicht der Unrechtsstaat“, sagt er trotz aller Beschränkungen. „Die Grundrechte sind nicht dauerhaft in Gefahr.“

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