München/Dresden – Der Ministerpräsident steigt ab, schiebt sein Fahrrad langsam neben den Demonstranten her und lässt sich ungerührt beschimpfen, minutenlang. „Dich wählen wir demnächst ab“, ruft einer. „Sie haben das deutsche Volk mit ins Unglück gestürzt“, der Nächste. „Du bist doch der blödeste Hammel, den Sachsen je gesehen hat!“ Er wolle sich, so ist Michael Kretschmer leise zu vernehmen, „mal kurz hier unterhalten“. „Verpiss dich“, kräht einer zurück.
Tut er nicht. Kretschmer, 45, CDU, ist nicht versehentlich in die Corona-Demonstration in Dresden geraten, er ist gezielt hingeradelt in seiner grünen Outdoor-Jacke. Er sucht eine Stunde lang das Gespräch mit den Demonstranten. Bundesweit steht er nun in der Kritik, weil er keine Maske trug. Es gibt aber auch die Bilder, wie er auf seinem Rad lehnt und angeregt mit skeptischen Demonstranten redet. Lohnt sich das?
Der junge Sachse hat seit Amtsantritt 2017 immer wieder spontan den Dialog auf der Straße gesucht, auch in der aufgeheizten Asyldebatte. „Man muss nicht jede Position teilen, muss auch manchmal widersprechen. Aber sich mit Respekt zu begegnen und zuzuhören, was andere sagen, das war mir schon immer wichtig“, sagt Kretschmer gegenüber unserer Zeitung. Er wolle die Beweggründe für die Demos verstehen. „Ich möchte gerne wissen, welche Gruppen von Menschen sich da treffen. Für mich waren das sehr wichtige Momente.“
Er habe nun „Leute getroffen, die Stimmung machen wollten“, aber auch viele, „die eine andere Einschätzung über die Gefährlichkeit dieser Corona-Krankheit als ich und als viele andere haben, die jetzt Entscheidungen in Deutschland treffen“.
Vielleicht hat Kretschmer mehr Gesprächsbedarf in einem Land, wo 40 Prozent AfD und Linke wählen. Er ist aber nicht der Einzige mit diesem Ansatz. Seit Jahren schon verdutzt auch Horst Seehofer Gegendemonstranten, indem er auf sie zugeht. Selbst als Innenminister bricht er gern aus dem Ring von Personenschützern aus. Oft entstehen verblüffend ruhige Dialoge. Wahlkampf 2018 in Ingolstadt: Plötzlich setzt sich Seehofer zu einer jungen Frau mit blauen Haaren, Totenkopf-Shirt und „F… dich“-Slogan auf der Lederjacke. Er lässt sich erklären, warum sie seine Asylpolitik ablehnt. „Ich bitte Sie einfach, mal über meine Sichtweise nachzudenken“, sagt er ihr respektvoll.
Manchmal kühlen die Emotionen ab. Ohnehin sind Demonstranten nicht über einen Kamm zu scheren, es gibt ja auch viele zutiefst bürgerliche Proteste. Vergleichbar ist nur der Vorgang, wenn Politiker überraschend auf Kritiker zugehen.
Das Sicherheitsrisiko ist, auch wenn es wild aussieht, überschaubar. Bei hohen Politikern sind jede Minute Leibwächter dabei, die bei Rangeleien einschreiten würden. Das politische Risiko indes bleibt: Gemäßigte Wähler können sich abgestoßen fühlen, wenn ihr Regent mit Radikalisierten spricht. Und wo ist die Grenze der Selbstachtung für einen Politiker, sich aufs Übelste anpöbeln zu lassen, ehe vielleicht ein Dialog in Gang kommt?
Sie könne jeden verstehen, der sich der Häme nicht aussetzen wolle, sagt die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch. Es sei zudem eine Abwägung, ob sich der zeitliche Aufwand lohne. Wo es möglich sei, solle man aber das Gespräch suchen, rät Münch Politikern zumindest mit Blick auf die aktuellen Corona-Demos. Es gebe auch berechtigte Ängste. „Das sind nicht nur Aluhut-Träger und Verschwörungsgläubige, die den Staat ablehnen. Dort sind viele Leute, die nicht verloren sind. Wenn man nur sagt, mit all denen redet man nicht mehr, steht die AfD sofort als Gesprächspartner bereit.“ Den Dialog könne man nicht nur bei Demos führen, rät die Professorin, auch im Internet. Das sei keine Anbiederei.
Der Gegenentwurf: Klare Kante und Abgrenzung. Der Grüne Winfried Kretschmann würde die Corona-Demos in Baden-Württemberg laut „Spiegel“ lieber untersagen. Er käme nie auf die Idee, sich unter diese Protestierer zu mischen – obwohl dort, anders als bei Pegida, sogar Grünen-Klientel dabei sei. Auch die CSU in Bayern sucht Distanz. Für die Kanzlerin ist es sogar undenkbar, auf „Merkel muss weg“-Rufer zuzugehen. Sie hörte die Schreie schon bei vielen Auftritten – und reagierte mit keiner Miene.
Anders Sigmar Gabriel als SPD-Chef 2016 in Salzgitter: Er reckte Demonstranten den Mittelfinger entgegen. Mit brüllenden und gewaltbereiten Rechtsradikalen sei keine Kommunikation möglich, verteidigte er das später. Und legte nach: „Ich habe nur einen Fehler gemacht: Ich habe nicht beide Hände benutzt.“