München – Auf den Bildern sind zehn Personen zu sehen, aber es können auch mehr gewesen sein. Das Motiv ist etwas unübersichtlich, und hinter die Fahrstuhltür oder den korpulenten Herrn im Anzug könnten leicht noch ein, zwei, drei Menschen passen. Auf jeden Fall waren es viel zu viele für diesen Aufzug.
Zugutehalten muss man Jens Spahn, dass er in diesem Moment Maske trug. Vorwerfen muss man ihm hingegen, dass er alles andere, was man in Corona-Zeiten unbedingt beachten sollte – wenig Kontakt, viel Abstand –, falsch machte. Ausgerechnet er, der Gesundheitsminister.
PR-mäßig lief sein Besuch in einem Gießener Krankenhaus Mitte April ebenso aus dem Ruder wie am Wochenende das Abendessen Christian Lindners in Berlin, an dessen Ende er einen Bekannten mit Umarmung und ohne Maske verabschiedete. Beide waren hinterher geständig. Man nehme sich vor, umsichtig zu handeln, sagte Spahn, „und dann passiert es halt manchmal doch“. FDP-Chef Lindner machte eine „Unkonzentriertheit“ für den Fauxpas verantwortlich. Ein Politiker sollte es besser wissen, aber „am Ende bleibt man Mensch“.
Menschen machen Fehler, aber dass Leute aus dem Politikbetrieb die Fehler begehen, vor denen sie ausdrücklich warnen (Spahn) oder die sie anderen unter die Nase reiben, ist ungewöhnlich. Wenige Tage vor seinem Fehltritt hatte Lindner den Berliner Fußballprofi Salomon Kalou nach dessen Verstoß gegen Hygiene- und Abstandsregeln noch gemaßregelt. Er müsse so bestraft werden, „dass es selbst Fußballmillionären richtig wehtut“.
Vermutlich hat sich Kalou ähnlich wenig dabei gedacht wie Spahn im Aufzug oder Lindner am Ende eines geselligen Abends. Gedankenlosigkeit, sagt der Politikpsychologe Thomas Kliche von der Universität Magdeburg-Stendal, ist die schlüssigste Erklärung für so ein Verhalten: „Die ganzen Regeln sind neu, kompliziert, wechseln öfter und greifen in Gewohnheiten ein, mit denen wir den Alltag halbwegs nett eingerichtet hatten.“ Als Außenstehender sollte man „sehr vorsichtig sein, erste Steine zu werfen“.
Leider leben wir in einer Zeit, in der manche Menschen gezielt zu Steinen greifen. Es war dann auch eher Häme als fundierte Kritik, die speziell Lindner entgegenschlug. Kritische Beobachter fühlten sich in ihrem Vorurteil bestätigt, dass für Eliten andere Regeln gelten. „Führungspersonen vertreten die Werte und Normen der Menschen“, warnt auch Kliche. Gerade bei einem sensiblen Thema wie Corona, „mit so viel Bereitschaft aller, sich selbst zurückzunehmen und einzuschränken, sollten sich alle an die Regeln halten“. Kritischer sieht er gleichwohl das Verhalten Michael Kretschmers, der in Dresden „aus politischem Kalkül“ ohne Maske eine Demo besucht habe: „Das fühlt sich gar nicht gut an, wenn ein Mächtiger sich selbst von seinen eigenen Regeln ausnimmt.“
Aber auch da gibt es Ausnahmen. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow kam öffentlich deutlich besser weg als Kretschmer, obwohl er gegen die eigene Corona-Verordnung verstieß. Seine Erklärung überzeugte auch die Behörden: Er hatte die Beerdigung einer Nachbarin besucht. MARC BEYER