Erfurt/München – Schweres Geschütz: „Ich möchte nicht, dass Bayern noch mal infiziert wird durch eine unvorsichtige Politik, die in Thüringen gemacht wird.“ Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) passen die Lockerungsübungen seines thüringischen Amtskollegen Bodo Ramelow (Linke) in der Corona-Krise überhaupt nicht. Und sein Innenminister drohte dem ostdeutschen Nachbarn gar mit Gegenmaßnahmen. Politisches Kampfgetümmel – aber es steckt mehr dahinter wegen Unterschieden beim Infektionsgeschehen in Ost und West.
In Westen gibt es einige tausend Todesfälle, in Ostdeutschland einige hundert – allerdings bei deutlich weniger Einwohnern. Das Statistische Landesamt in Thüringen hat nun die Zahl der Corona-Infektionen der Bundesländer pro 100 000 Einwohner berechnet. Und da liegen die Werte in den ostdeutschen Ländern fast durchgängig unter denen der westdeutschen.
Thüringen kam beispielsweise mit Stand 25. Mai, als Ramelow den weitgehenden Ausstieg aus den allgemeinen Corona-Beschränkungen gegen bundesweite Kritik verteidigte, auf 134 Infizierte seit Beginn der Pandemie pro 100 000 Einwohner. In Bayern waren es danach 354 Infizierte, in Sachsen sowie Brandenburg jeweils 128 und in NRW 208 pro 100 000 Einwohner. Mit Abstand die niedrigsten Werte verzeichneten Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt mit 47 und 77.
Weniger laut als Thüringen haben in den vergangenen Tagen fast alle ostdeutschen Ministerpräsidenten weitreichende Lockerungen in Aussicht gestellt. Auch bei Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) war von Geboten statt Verboten die Rede. Möglicherweise geht Ramelow weiter. Er ließ sich per Protokollnotiz bei den von Bund und Ländern verhandelten neuen Kontaktbeschränkungen einen Sonderweg offen. Fast trotzig sagte er: „Weil ich kein Stück zurückrudere.“ „Staatliche Verordnungen sind Noteingriffe“, die nur berechtigt seien, wenn das Infektionsgeschehen das erfordere.
Aber warum ist die Situation im Osten anders? Fachleute nennen mehrere Gründe: Die niedrige Bevölkerungsdichte oder einen relativ hohen Anteil älterer Menschen – in Thüringen ist etwa jeder Dritte 60 Jahre und älter. Diese Menschen gehören zwar zur Risikogruppe, aber sie gelten als weniger mobil und könnten entschleunigend gewirkt haben, so eine Erklärung vom Bremer Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie.
Und wahrscheinlich haben weniger Ostdeutsche in Skigebieten wie Ischgl in Österreich Urlaub gemacht und das Virus eingeschleppt. Als die Beschränkungen in Deutschland begannen, gab es zwischen Ostsee und Thüringer Wald erst verhältnismäßig wenige Infektionen.
Ob sich Ramelow, dessen Corona-Alleingang auch in seiner rot-rot-grünen Koalition in Erfurt für Irritationen sorgt, durchsetzen kann, werden die nächsten Tage zeigen. Heute will sich das Kabinett mit seinen Vorschlägen befassen, nach denen nur noch das Abstandsgebot und die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln bliebe.
Ein Problem für Ramelow bleibt der Landkreis Sonneberg direkt an der Grenze zu Bayern, auf den auch Söder schaut. Dort gibt es nach wie vor Corona-Ausbrüche – zuletzt vor Pfingsten in einem Pflegeheim mit hochbetagten Bewohnern.
Sollte sich Ramelow durchsetzen, könnte er als Öffner in der Krise gelten, während Söder mit seinem restriktiven Kurs gepunktet hat. Dabei sind Söders Erfolge nicht so eindeutig. Mit Rosenheim, Regensburg und dem Landkreis Coburg liefert Bayern seit Wochen den jeweiligen bundesweiten Spitzenreiter bei den wöchentlichen Neuansteckungen im Verhältnis zur Bevölkerung. In Thüringen waren es tagelang die Kreise Greiz und Sonneberg.
Nach einer neuen Umfrage hat Ramelow mit seinem Kurs nur jeden Vierten hinter sich: Seine radikalen Lockerungspläne werden laut ZDF-Politbarometer von 72 Prozent abgelehnt.