Die gespaltenen Staaten von Amerika

von Redaktion

Washington – Noch bevor sie auf dem Podium ist, kommen die Tränen. „Ich will, dass alle wissen, was diese Polizisten uns weggenommen haben“, sagt Roxy Washington. Ihre Tochter Gianna, sie reicht kaum über das Pult, klammert sich Schutz suchend an sie. „Am Ende des Tages können die Polizisten heim zu ihren Familien gehen. Gianna hat keinen Vater mehr. Er wird sie nie aufwachsen sehen, er wird sie niemals zum Altar bringen können.“

Gianna ist eines von zwei Kindern des getöteten Afroamerikaners George Floyd, sie ist sechs Jahre alt. „Ich bin für mein Kind hier“, sagt ihre Mutter dann, „und ich bin hier für George, weil ich Gerechtigkeit für ihn will.“

Es ist ein rührender, ein beklemmender Auftritt, der im Kleinen zeigt, was die USA im Großen seit Tagen umtreibt. Auch am Dienstag gingen in mehreren US-Metropolen Tausende Menschen auf die Straße; in Washington, New York und Los Angeles demonstrierten sie bis zum frühen Mittwochmorgen, meist friedlich, wie es heißt. Vermutlich auch deshalb ließ die Polizei die Demonstranten – trotz nächtlicher Ausgangssperren – gewähren.

Mittlerweile werden drei weitere US-Polizisten formell beschuldigt. Den drei Beamten wird Beihilfe zu einem Tötungsdelikt zur Last gelegt, wie aus Gerichtsdokumenten hervorging. Zugleich wurden die Vorwürfe gegen den hauptbeschuldigten Polizisten Derek Chauvin verschärft, der Floyd minutenlang das Knie auf den Nacken gedrückt hatte.

Ihm wird nun ein „Mord zweiten Grades“ zur Last gelegt. Das entspricht in etwa einem Totschlag in einem besonders schwerem Fall und kann mit bis zu 40 Jahren Gefängnis bestraft werden.

Floyds Tod bewegt inzwischen Menschen und Regierungen weltweit. Die Bundesregierung zeigte sich gestern erschüttert, der britische Premier Boris Johnson äußerte Verständnis für die Proteste und sagte: „Was in den USA passiert ist, war entsetzlich und unverzeihlich.“ Vielleicht am eindrücklichsten reagierte Justin Trudeau. Auf die Drohung des US-Präsidenten angesprochen, die Proteste notfalls mit Hilfe des Militärs zu stoppen, schwieg kanadas Premier für rund 20 Sekunden. Dann sagte er: „Wir alle beobachten mit Entsetzen und Bestürzung, was in den USA passiert.“

Deutlicher kann er kaum werden, ohne diplomatische Verwerfungen zu riskieren. US-Präsident Donald Trump, dem tausendfach der Vorwurf entgegenschlägt, die angespannte Stimmung aus politischen Gründen bewusst weiter anzuheizen, lässt sich trotzdem nicht beirren. Nicht von Trudeau, nicht von Washingtons Erzbischof Wilton Gregory, der dem Präsidenten vorwarf, den Besuch eines Schreins von Papst Johannes Paul II. am Dienstag für seine Zwecke „missbraucht“ zu haben. Vor allem nicht von den Demonstranten. Washington sei derzeit der sicherste Ort der Welt, twitterte er. Beobachter nahmen die Bilder vermummter Nationalgardisten, die das Lincoln Memorial bewachten, dagegen mit mulmiger Skepsis auf.

Statt Selbstkritik zu üben, geht Trump, um Widersprüche nicht verlegen, weiter in die Offensive. „Meine Regierung hat mehr für die schwarze Community getan als jeder andere Präsident seit Abraham Lincoln“, twitterte er. Darin steckt auch ein Stück Verzweiflung. Trump braucht mehr Stimmen der schwarzen Bevölkerung, um bei der Wahl im November eine Chance gegen den Demokraten Joe Biden zu haben. Gerade jetzt empfinden viele die Prahlerei als geschmacklos.

Die Inszenierung als Law-and-order-Präsident scheint Trump eher zu entsprechen. Für sein Vorhaben, das Militär gegen Demonstranten einzusetzen, mangelt es aber an lauten Fürsprechern. Gestern erst distanzierte sich sein eigener Verteidigungsminister Mark Esper von den Plänen. Der Einsatz von Berufssoldaten im Inland sollte nur das „letzte Mittel“ in den „dringlichsten und äußersten Situationen“ sein, sagte er vor Journalisten im Pentagon. „Wir befinden uns derzeit nicht in einer solchen Situation.“

Ob der Präsident der Einschätzung folgt oder Esper –wie das Schicksal vieler ehemaliger Trump-Mitarbeiter zeigt, die sich Widerspruch erlaubten – bald arbeitslos ist, ist eine andere Frage.

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