München/Berlin – An deutlichen Worten mangelt es an diesem Morgen nicht. Da wäre zunächst die Wertschätzung, die geradezu demonstrativ zur Schau gestellt wird. Er erinnere sich noch an einen Auftritt Thomas Haldenwangs in der Innenministerkonferenz, sagt Horst Seehofer. Der damals noch ziemlich neue Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz habe zur Sicherheitslage im Land referiert. Am Ende, erinnert sich der Bundesinnenminister, sei Haldenwang mit Beifall bedacht worden. Das komme selten vor und mache ihn als Vorgesetzten „ein Stück weit stolz“.
Die Vorstellung eines Verfassungsschutzberichts, der sich mit Straftaten vom Mord bis zur Verbreitung von Hassbotschaften beschäftigt, ist eher keine Veranstaltung, auf der man sentimental wird. Aber einen Eindruck hat man auch gestern bekommen, wie Haldenwang die Minister für sich eingenommen hat. Klar und verbindlich umriss er die Ergebnisse, zuweilen fast schon schmerzhaft plastisch.
Der Anlass war ernst, oft alarmierend. Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus seien weiterhin „die größte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschland“, sagt Seehofer. Über 90 Prozent aller antisemitischen Straftaten in Deutschland hätten einen rechtsextremistischen Hintergrund: „Das ist eine Schande für unser Land.“
Das ist kein neuer Befund, aber er wird jedes Jahr mit steigenden Zahlen in vielen Bereichen gestützt. Für 2019 beziffert der Verfassungsschutz das Potenzial an Rechtsextremisten auf 32 080. Das bedeutet ein Plus von rund einem Drittel gegenüber dem Vorjahr. Grund dafür sind vor allem die rund 7000 Anhänger des völkisch-nationalen „Flügels“ in der AfD, die der Verfassungsschutz nun zu den Rechtsextremisten zählt.
Von dieser Gruppe stuft das Bundesamt 13 000 als gewaltbereit ein – 300 mehr als ein Jahr zuvor. Diese zunehmende Radikalisierung bereitet Haldenwang die „größte Sorge“, ungeachtet der absoluten Zahlen, die bei den Gewaltdelikten im rechten Spektrum sogar einen Rückgang um 15 Prozent zeigen. Der Präsident verweist auf die Intensität der Taten. 2019 war das Jahr, in dem der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke ermordet wurde und der versuchte Anschlag auf eine Synagoge in Halle zwei Todesopfer forderte. Und das, sagt Haldenwang, sei „nur die Spitze einer Gefahr, die um sich greift“.
In der rechten Szene hat er einen „regelrechten Wettbewerb um die höchsten Opferzahlen“ ausgemacht und verweist auch auf die Morde von Hanau Mitte Februar. Ziel sei es, einen „Highscore an Tod“ zu brechen. Haldenwang beklagt geistiges Brandstiftertum und bezeichnet die Neue Rechte, die mit ihren Worten die Taten erst befeuere, als „Superspreader für Hass, Radikalisierung und Gewalt“.
Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 22 300 Taten mit rechtsextremistischem Hintergrund gezählt, zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Im linken Spektrum ist die Zahl extremistischer Taten sogar um 40 Prozent gestiegen auf fast 9800. In dieser Größenordnung ist das auch deshalb erstaunlich, weil es 2019 in Deutschland keine Großveranstaltungen wie G7- oder G20-Gipfel gab, die die linksextremistische Szene hätten provozieren und motivieren können. Mehr als 33 000 Personen führt der Verfassungsschutz als linksextrem, 9200 von ihnen gelten als gewaltorientiert.
Die Gefahr islamistischer Anschläge, bewertet das Bundesamt als unverändert hoch. Die Bedrohung sei weiterhin präsent, auch wenn Anschläge und Anschlagsvorhaben in Deutschland und Europa insgesamt rückläufig seien. Vor allem im gewaltbereiten salafistischen Spektrum nahmen prägnante, klar umrissene Bedrohungsszenarien scheinbar ab, heißt es in dem Bericht. Es bleibe aber eine „unterschwellig-diffuse Bedrohungslage“. MARC BEYER