„Die Koalition lässt Familien im Stich“

von Redaktion

Berlin – Als Mutter zweier Kinder hat auch Grünen-Chefin Annalena Baerbock (39) die Corona-Krise zu spüren bekommen. Ein Gespräch darüber, wie die gebürtige Hannoveranerin über die Bewältigung der Pandemie denkt, was das Geschehen für den Bundestagswahlkampf bedeutet und ob sie auch Kanzlerin könnte.

Frau Baerbock, im internationalen Vergleich ist Deutschland bislang gut durch die Corona-Krise gekommen. Hat die Bundesregierung dafür nicht ein grünes Lob verdient?

Die Bundesregierung hat zu Beginn der Krise schnell gehandelt, zu Recht. Allerdings mache ich mir Sorgen, weil ihr die Weitsicht zu fehlen scheint. Noch ist das Virus unter uns. Eine zweite Welle ist nicht auszuschließen. Dafür sollten wir gewappnet sein. Aber heimische Betriebe, die verstärkt Schutzausrüstungen herstellen, damit Deutschland unabhängig von internationalen Lieferketten wird, lässt die Bundesregierung jetzt im Regen stehen. Das kann sich rächen.

Wie meistern Sie persönlich die Pandemie?

Zum Glück sind Kita und Hort bei uns jetzt wieder offen. Denn wie bei Millionen anderen Familien war das Frühjahr echt ein krasser Spagat. Kita und Schule plötzlich dicht, keiner wusste, wie es weitergeht. Die Bundesregierung hat Familien im Stich gelassen. Sie hat anscheinend vorausgesetzt, ach Mutti macht das schon. Frauen verdienen ja oft weniger, arbeiten Teilzeit, und wer steckt dann zurück, wenn die Kita schließt? Die Frau. Bei uns zu Hause hat zum Glück mein Mann viel übernommen, auch schon vor Corona.

Andererseits hat die Corona-Pandemie auch den demoskopischen Höhenflug Ihrer Partei gestoppt. Besorgt Sie das?

Nein. Die demoskopischen Werte gehen rauf und runter. Aktuell liegen wir auf dem Level der letzten Europawahl, was bundesweit unser historisch bestes Ergebnis war. Und bis zur Bundestagswahl ist noch mehr als ein Jahr Zeit.

Nach Lage der Dinge dürfte das Virus noch weit bis in den anstehenden Bundestagswahlkampf präsent sein. Wie stellen sich die Grünen darauf ein?

Die Kernfrage ist, wie wird eine Gesellschaft krisenfest? Wir sollten viel vorausschauender handeln, nicht wie die Große Koalition erst auf den letzten Drücker, wenn die Hütte eigentlich schon brennt. Wir richten unsere Politik an Vorsorge, Widerstandsfähigkeit und Nachhaltigkeit aus – quer durch die Bank: Wirtschaft, Gesundheit, Bildung, Klima ohnehin.

Über das grüne Herzensthema, den Klimaschutz, wird wegen Corona weniger geredet.

Das nehme ich anders wahr. Oft sagen mir Menschen, wenn uns eine Gesundheitskrise so umhauen kann, dann müssen wir endlich für die Bewältigung der Klimakrise lernen. Deshalb ist es entscheidend, dass das Geld, das jetzt zum Wiederaufbau nach Corona eingesetzt wird, auch der Eindämmung der Klimakrise dient. Sonst ist alles für die Katz.

Seit gut zwei Wochen liegt der Entwurf eines neuen grünen Grundsatzprogramms vor. „…zu achten und zu schützen… – Veränderung schafft Halt“, lautet die Überschrift. Was soll ein Nicht-Grüner davon halten?

Die Überschrift ist abgeleitet aus Artikel 1 des Grundgesetzes, nämlich die Würde eines jeden Menschen zu achten und zu schützen. Die Menschenwürde ist das zentrale Gut in jeglicher Situation. Aber wenn wir ein Leben in Würde und Freiheit ermöglichen wollen, müssen wir richtig was anders machen, angefangen beim Erhalt unserer Lebensgrundlagen. Deswegen haben wir noch einen Untertitel: Veränderung schafft Halt.

Das Wort „schützen“ berührt auch die innere Sicherheit. Auffällig ist aber, dass die Grünen in keiner der zehn Landesregierungen, an denen sie beteiligt sind, den Innenminister stellen. Ein Manko?

Ja. Wir haben einen inhaltlichen Führungsanspruch. Das heißt auch, dass wir in allen Politikfeldern Antworten geben, bis hin zur inneren Sicherheit. Wir haben keine Scheu davor, die Innenministerin zu stellen. Dass es derzeit anders ist, hängt auch damit zusammen, wie stark man in einer Landesregierung vertreten ist. Mit acht oder neun Prozent kann man schlecht alle Ressorts beanspruchen.

Ein eigener Kanzlerkandidat würde den Führungsanspruch der Grünen personell untermauern. Trauen Sie sich das Amt zu?

Robert Habeck und ich wollen in führender Rolle in diesem Land gestalten. Daran hat sich nichts geändert.

Interview: Stefan Vetter

Artikel 10 von 11