Jerusalem – Zu Beginn der weltweiten Corona-Pandemie galt Israel vielen als Beispiel für eine rasche und erfolgreiche Eindämmung. Doch inzwischen steht das Land schlechter da als die meisten europäischen Länder, ein zweiter Lockdown scheint unausweichlich. Was ist schiefgelaufen? Und was können Länder wie Deutschland tun, um einen ähnlichen Verlauf zu vermeiden?
Professor Arnon Afek, Vize-Direktor des Schiba-Krankenhauses bei Tel Aviv, spricht von „vorzeitigen Siegesfeiern“, nachdem es Israel mit rigorosen Maßnahmen und einem Lockdown im Frühjahr zunächst gelungen war, die Infektionszahlen stark zu reduzieren. „Die Lockerungen waren dann viel zu hastig und ohne klare Strategie und haben eine neue Welle von Infektionen ausgelöst.“ Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hatte die Bürger im Mai dazu aufgefordert, rauszugehen, „Kaffee trinken, auch Bier trinken“.
Seit Ende Mai schnellen die Zahlen in Israel wieder in die Höhe, am Mittwoch wurde mit 1780 Fällen ein Rekordwert an täglichen Neuinfektionen erreicht. Im Westjordanland zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab.
Als Hauptinfektionsquellen nach den Lockerungen sieht Afek Schulen und Großveranstaltungen wie Hochzeiten. „In Israel gibt es viel mehr Schüler in einer Klasse als in Deutschland“, sagt er. Außerdem hätten sich viele Menschen sehr undiszipliniert verhalten und weder Maskenpflicht noch Abstands- oder Hygieneregeln eingehalten. „Die Israelis sind eher skeptisch und rebellisch in ihrem Charakter“, erklärt er. Außerdem habe die Polizei nicht ausreichend gegen die Regelverstöße durchgegriffen. Medienberichten zufolge ist es etwa bei vielen Schul-Abschlusspartys, die trotz Verbots heimlich stattfanden, reihenweise zu neuen Ansteckungen gekommen. „Die Älteren sind vorsichtiger geworden, in dieser Welle haben sich vor allem Jüngere angesteckt, deshalb gab es bisher auch weniger Schwerkranke“, sagt Afek. „Aber die Jungen haben Eltern und Großeltern, die sich letztlich auch infizieren können.“
Mit 380 ist die Zahl der Toten in Israel vergleichsweise gering. Dies wird auch damit erklärt, dass Israel ein außergewöhnlich junges Land ist. Mit durchschnittlich 3,1 Kindern pro Frau hat es die höchste Geburtenrate aller Länder in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Vor allem strengreligiöse Wohngebiete sind von der Pandemie stark betroffen.
Die epidemiologischen Untersuchungen der Behörden nach Entdeckung von Corona-Fällen seien langsam und mangelhaft, sagt Afek. „All dies hat dazu geführt, dass wir jetzt die zweite Welle haben.“ Die Lehre für andere Länder wie Deutschland: „Sie müssen extrem vorsichtig sein, vor allem, was Großveranstaltungen angeht.“ Afek geht davon aus, dass die wirklichen globalen Herausforderungen noch bevorstehen – im Winter. SARA LEMEL