„Trumps Kernwählerschaft schrumpft“

von Redaktion

100 Tage sind es noch bis zur Präsidentschaftswahl in Amerika. Über die aktuelle Lage in den USA und die Perspektiven für November sprachen wir mit dem in München lebenden US-Amerikaner Prof. James Davis, der an der Universität St. Gallen Politikwissenschaft lehrt.

Dreieinhalb Jahre Präsidentschaft Donald Trump. Wie hat das die USA verändert?

(atmet tief durch) Dreieinhalb Jahre Trump haben Amerika tief gespalten. Sie haben bei vielen Menschen Zweifel gesät an der Verlässlichkeit unserer Institutionen und demokratischen Normen. Es wurde möglich, Meinungen und Ideen aus der Vergangenheit freien Lauf zu lassen, die wir für längst überholt und überwunden hielten. Etwa in Fragen des generellen Umgangs miteinander, im Speziellen mit Frauen oder auch Fragen der Stellung von Minderheiten in der Gesellschaft.

„It’s the economy, stupid!“ gilt als Maßstab für die Wahlchancen eines Präsidenten bzw. Kandidaten. Bis zum Frühjahr glänzte die US-Wirtschaft. Dann kam Corona. Kann Trump mit dem Thema noch punkten?

Ich glaube es nicht. Es ist klar, dass Corona und die Wirtschaft zusammenhängen. Trumps fatale Vernachlässigung der Führung hat dazu geführt, dass wir viele kranke Menschen und eine kranke Wirtschaft haben.

Jetzt versucht er es mit einer abrupten Kehrtwende, ruft zum Maskentragen auf und sagt sogar den Parteitag in Florida ab. Nehmen ihm die Amerikaner den Schwenk ab?

Nein, der Kuchen ist gegessen. Die Amerikaner habe ja erlebt, wie lange er die Krankheit ignoriert hat. Jetzt haben wir über vier Millionen Erkrankte und über 140 000 Tote.

Wie ist es um Trumps Kernwählerschaft bestellt? Steht sie trotz aller Kritik noch hinter ihm?

Seine Kernwählerschaft schrumpft. Er hatte zu Anfang eine klare Mehrheit bei den älteren weißen Amerikanern. Diese Gruppe bricht weg, weil viele der Älteren besonders von Corona gefährdet und deshalb besonders enttäuscht sind von seiner mangelnden Führung. Und in für die Wahl wichtigen Bundesstaaten wie Florida machen Rentner und Rentnerinnen einen großen Teil der Wählerschaft aus. Umfragen dort zeigen, dass Trump deutlich hinter seinem Konkurrenten Joe Biden liegt.

Vor allem die Menschen im sogenannten Rust Belt haben Trump gewählt. Geht es denen heute besser?

Nein, für die meisten Menschen dort ist das Leben genauso schlimm wie vor seiner Amtszeit. Ein Grund: Trump führt Handelskriege mit Strafzöllen gegen China und Europa. Für jeden Arbeitsplatz, den er dort durch eine Entscheidung zurückholt, verliert er laut Analysen von Wissenschaftlern einen Erdteil woanders. Etwa Exporte in der Agrarindustrie. Diese Branche leidet. Also: Einzelnen geht es besser, der Allgemeinheit überhaupt nicht.

Ein anderes Thema ist Rassismus und Polizeigewalt. Trump versucht sich als Hüter von Recht und Ordnung. Gelingt ihm das?

Es ist eine gewagte Strategie, einzelne Städte abzustempeln, als seien sie ohne Kontrolle. Es gibt natürlich Proteste, etwa in Portland, aber sie laufen zumeist ruhig und friedlich ab, abgesehen von wenigen Ausnahmen. So lange das so bleibt, geht Trumps Law-and-order-Politik nicht auf. Aber, er versucht’s.

In landesweiten Umfragen liegt Biden klar vor dem Amtsinhaber. Trumps Taktik zur Wiederwahl scheint Eskalation zu heißen. Geht seine Rechnung auf?

Ich kann keine klare Strategie erkennen. Es fehlt eine klare Botschaft. Er greift lediglich nach jedem Strohhalm, der Biden schaden könnte. Biden ist deshalb gut beraten, ruhig zu bleiben.

Was hätten wir Europäer von einem US-Präsidenten Biden zu erwarten?

Man würde sofort eine Reihe von Maßnahmen erkennen, die deutlich machen, dass die Trump-Jahre vorbei sind.

Zum Beispiel?

Er würde dem Pariser Klimaabkommen wieder beitreten, er könnte die sogenannten Strafzölle zurücknehmen, er würde ein klares Bekenntnis zum europäischen Projekt und zur Nato ablegen, und ich würde eine mit den Europäern abgestimmte Strategie für eine nachhaltige Wiederbelebung der Weltwirtschaft erwarten.

Und was ist im Falle einer Wiederwahl Trumps?

Das ist ein Horrorszenario. Trump wäre völlig entfesselt.

Die Eine-Million Dollar-Frage: Wer wird gewinnen?

(lacht): Aus heutiger Sicht gewinnt Biden.

Interview: Alexander Weber

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