Frankfurt/Kassel – Die Entscheidung, dass Walter Lübcke sterben sollte, fiel Mitte April vorigen Jahres in der Nähe der Solarfirma SMA in Niestetal-Sandershausen.
Dort verabredeten sich die beiden Kasseler Rechtsextremisten Stephan Ernst und Markus H. an einer Sitzgelegenheit, um zu bereden, wie sie gegen den Regierungspräsidenten Walter Lübcke vorgehen wollen. So schilderte es der Hauptangeklagte gestern vor dem Frankfurter Oberlandesgericht. Bislang hatte Stephan Ernst in seinen drei Geständnissen stets beteuert, es sei ursprünglich darum gegangen, Lübcke nur eine Abreibung zu verpassen. Auch gestern hatte der 46-Jährige zunächst angeführt, H. habe im Vorfeld zu ihm gesagt: „Wenn er blöd kommt, dann schieß.“ Dann gab Ernst auf die Nachfrage des Vorsitzenden Richters Thomas Sagebiel, ob Lübcke in jedem Fall hätte sterben sollen, hingegen zu, dass der Entschluss bereits eineinhalb Monate vor der Tat gefallen sei.
Die wichtigste Erkenntnis des Tages: Der mutmaßliche Mörder bleibt auch nach seinem dritten Geständnis ein Mann der Widersprüche. Seit gestern sind sich viele Prozessbeobachter sicher, dass es neben Ernst und H. einen Mitwisser der Tat vom ersten Juni-Wochenende 2019 gegeben haben muss. So gab der Hauptangeklagte zunächst zu, über Lübcke auf dem verschlüsselten Messenger-Dienst Threema nicht nur mit seinem Kumpel H. kommuniziert zu haben, sondern auch mit dem Alsfelder Neonazi Alexander S. Ernst war fast schon dabei, Sagebiels Frage zu beantworten, ob er mit S. im Vorfeld der Tat auch über seine Tatpläne gechattet habe, da beantragte sein Verteidiger Mustafa Kaplan eine Unterbrechung. Nach der Besprechung mit dem Anwalt sagte Ernst plötzlich, er habe mit S. nie politische Themen behandelt. Rechtsanwalt Alexander Hoffmann, der den irakischen Flüchtling Ahmad E. als Nebenkläger vertritt, sagte gegenüber unserer Zeitung, es habe einen Anschein, als könnte Alexander S. von der Tat gewusst haben.
Ausführlich schilderte Ernst sein Verhältnis zu seinem Neonazi-Kameraden Markus H. Den nannte er im Prozess bislang ausschließlich mit Nachnamen. Gestern sagte er hingegen mehrmals „der Markus“. Regelmäßig seien sie auf Flohmärkten in den Kasseler Messehallen gewesen. Auf solchen Märkten habe H. gern Bücher über den Zweiten Weltkrieg, Messer und Steinschleudern verkauft. Als H. und seine damalige Freundin sich vor einigen Jahren trennten, soll er Ernst um Hilfe gebeten haben. Gemeinsam, so schildert es der Hauptangeklagte, fuhren sie die Sachen von H. wieder nach Kassel: „Wir hatten ein kameradschaftliches Verhältnis.“ Die Tat in Istha haben beide laut Ernst offensichtlich akribisch geplant: In einer abgelegenen Waschanlage im Industriegebiet schraubten sie neue Nummernschilder an Ernsts VW Caddy. Auf Lübckes Terrasse schlichen sich beide an den CDU-Politiker heran, ehe H. sagte: „Zeit zum Auswandern.“ Eine Anspielung auf Lübckes Aussage auf der Lohfeldener Bürgersammlung zur Flüchtlingspolitik. Dann drückte Ernst ab. Auf der Rückfahrt im Auto sagte H.: „Wir müssen cool bleiben und bis zum Ende pokern.“
MATTHIAS LOHR