„Johnson spielt mit dem Feuer“

von Redaktion

VON MIKE SCHIER

München – Die Laune in Brüssel war schon einmal besser. Für Deutschland zählt die europäische Hauptstadt zu den Corona-Risikogebieten. Im öffentlichen Raum gilt eine strenge Maskenpflicht. Und jetzt kehrt auch noch der alte Ärger über die Briten zurück in die Amtsstuben. Ab heute wollen die Unterhändler – mal wieder – an einem Abkommen über einen geordneten Brexit basteln. Doch die Vorzeichen könnten schlechter kaum sein. Denn Premier Boris Johnson beginnt offenbar damit, schon unterzeichnete Vereinbarungen zu unterlaufen.

Es ist ein Artikel der „Financial Times“, der gestern Morgen die Gemüter bewegt. Die in solchen Fragen gewöhnlich gut informierten Journalisten hatten Einblick in den Gesetzentwurf für den britischen Binnenmarkt – und der enthält gleich mehrere Punkte, die gegen mühsam ausgehandelte Vereinbarungen zwischen den Briten und der EU zur irischen Grenze verstoßen. So will Johnson künftig Staatshilfen für Unternehmen in Nordirland gewähren, ohne dabei die Brüsseler Spielregeln einzuhalten. Zugleich will er die Regelung aufweichen, wonach britische Lieferungen nach Nordirland als Exporte deklariert werden müssen.

Die Aufregung ist gewaltig. „Boris Johnson spielt mit dem Feuer“, sagte Manfred Weber, Chef der konservativen EVP-Fraktion im EU-Parlament, unserer Zeitung. Das Muster sei immer dasselbe: „Weil er innenpolitisch bei anderen Themen unter Druck ist, wird die Brexit-Karte möglichst effekthaschend eingesetzt.“ Hilfreich für Großbritannien sei diese Art von Politik nicht. „Wenn es Boris Johnson darauf anlegt, muss er auch mit einem No-Deal rechnen. Dies würde die Brexit-Schäden nochmals massiv vergrößern.“

Weber ist nicht allein in seinem Zorn. Johnson habe die bisherigen Verhandlungen „zu einer Farce verkommen lassen“, schimpft der Vorsitzende des Handelsausschusses im Parlament, Bernd Lange (SPD). Der irische Außenminister Simon Coveney nennt das Vorgehen „unklug“. Und die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon warnt, ein Brexit ohne Vertrag werde der Wirtschaft schwer schaden. Das sei dann Schuld der Tories, die sie als „Scharlatane“ bezeichnet. Die Schotten basteln längst am nächsten Referendum, um das Vereinigte Königreich zu verlassen.

Der Ärger ist auch deshalb so groß, weil Irland und seine sensible Grenze zwischen dem britischen Norden und der EU-treuen Republik stets besonders heikle Themen in den Gesprächen waren. Eine harte EU-Außengrenze mitten auf der Grünen Insel wollten beide Seiten vermeiden. Und ausgerechnet jetzt – kurz vor Beginn der entscheidenden Wochen in den Gesprächen – schickt London ein so destruktives Signal. „Verträge müssen eingehalten werden“, betont Weber. Johnson müsse wissen, dass die Haltung der EU gleich bleibe. „Wir werden den europäischen Binnenmarkt und das irische Friedensabkommen verteidigen.“

Dementiert wird der „Financial-Times“-Bericht in London übrigens nicht. „Wir nehmen begrenzte und vernünftige Maßnahmen im nationalen Recht vor, um spezifische Elemente des Nordirland-Protokolls klarzustellen“, erklärte ein Regierungssprecher. Damit solle „jede Unklarheit beseitigt“ werden. Kommissionschefin Ursula von der Leyen verlangte postwendend, dass sich Großbritannien an die Abmachungen zu halten habe.

Viel schlechter könnten die neuen Gespräche also kaum beginnen, zumal Johnson noch einmal den Druck erhöht: Wenn es bis Mitte Oktober keine Einigung gebe, „dann sehe ich nicht, dass es ein Freihandelsabkommen zwischen uns geben wird“, erklärte der Premier.

Pokert und blufft der 56-Jährige nur, um sich in eine bessere Position zu bringen? Oder nimmt er wirklich einen ungeordneten Brexit in Kauf? In Brüssel mehren sich die Zweifler.

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